Jade bemerkte seinen Blick und schämte sich ein wenig. "Tut mir leid... ist nicht sehr gemütlich bislang. Am wichtigsten war mir ein bequemes Bett zu haben, damit ich morgens gut rauskomme. Da blieb nicht viel Geld für anderes."
Ihr Gast schreckte aus seinen Gedanken auf und meinte prompt: "Oh, dafür habe ich vollstes Verständnis! Ein gutes Bett ist sehr wichtig!"
Etwas an der Art, wie er es sagte, und das schelmische Vergnügen auf seinem Gesicht verunsicherte sie. Wieder einmal war sie sich nicht sicher, ob er sie auf den Arm nahm oder mit ihr flirtete, ob bewußt oder unbewußt. Daher wußte sie nicht, wie sie reagieren sollte, und das unangenehme Gefühl der Bedrohung stieg wieder einmal in ihr auf. Es war jemand in ihrem kleinen Reich und beurteilte sie. Warum hatte sie ihn nur hereingelassen?
"Ehm..." machte sie unglücklich.

Der Vampir sah die Anspannung, die sich auf ihre Züge legte und langsam auch Besitz von ihren Schultern ergriff, und es tat ihm leid, daß seine winzige Anspielung so große Wirkung erzeugt hatte. "Der Scherz ging wohl daneben?" erkundigte er sich sanft. "Ich wollte beileibe nicht deinen Minimalismus verurteilen."
"Nein! Nein, ist okay!" versicherte die Schwarzhaarige tapfer und versuchte zu lächeln. Davon ließ er sich nicht beirren. "Jade Sparkle, ich sehe doch, daß es dir nicht gut geht."
"Es... es ist nur... Ich hab noch nie jemanden in mein Haus gelassen. Das ist ungewohnt."
Er glaubte zu verstehen, was in ihr vorging. Ein Eindringling im Rückzugsort mußte bedrohlich wirken für jemanden, der vor so vielem Angst hatte, noch dazu, wenn das Revier noch nicht einmal ganz eingelebt war. Still trat er ans Fenster heran und sah hinaus. Die Aussicht war zweifelsfrei der größte Vorteil des Hauses. Draußen rauschte der Fluß entlang, sich träge dahinwälzend in dem Betonkorsett, welches die Stadt ihm an dieser Stelle verpaßt hatte. Caleb überlegte, ob er lieber gehen sollte oder ob es eine Chance gab, daß Jade sich fing. Schließlich beschloß er, daß ein völliger Rückzug noch nicht angebracht sei. Lächelnd drehte er sich zu der jungen Frau um und meinte: "Ich denke, ich gehe noch mal hinaus und sehe mir den Fluß an."
"Oh! Soll ich mitkommen?" schreckte sie auf.
"Es ist deine Entscheidung. Ich bin dir aber nicht böse, wenn du lieber hier bleiben und doch noch deine nassen Haare föhnen möchtest, ehe du dich erkältest."
"Oh... okay", meinte sie erleichtert. "Bis gleich, Caleb."
"Bis gleich, Teuerste."

Jade blieb wie erstarrt stehen, bis sie hörte, wie sich die Haustür schloß. Dann rannte sie ins Bad und knallte die Tür hinter sich zu. Sie zog die Mütze, welche auch bereits feucht war, vom Kopf und warf sie auf den Boden.
"Wieso machst du das?!" fragte sie ihr Spiegelbild zweifelnd. "Es war alles okay! Du hattest so viel Spaß, wieso mußt du dich jetzt wieder so daneben benehmen?!"
Ihr stummes Gegenüber starrte ihr trotzig entgegen. "Gäste im Haus zu haben ist etwas völlig normales!" sagte sie sich und versuchte tief durchzuatmen. "Wieso hab ich nicht Summer als erstes eingeladen?" Sie hob ihre Mütze wieder auf und griff tatsächlich zum Föhn, mit dem sie lustlos das Innere ihrer Kappe trocknete, um sich abzulenken. "Weil ich Summer nicht so gut leiden kann wie Caleb. Die mit ihrem Sport- und Feten-Tick." Jade atmete weiter tief ein und aus und föhnte umständlich über die Schulter hinweg auch ihren Pulli, der ihr unangenehm am Rücken klebte von all dem Wasser, das aus ihren Zöpfen in ihn gesickert war. "Aber Caleb ist ein Mann! Ist das egal? Es sollte egal sein! Er hat mir nichts getan! Doch, er hat mich einmal umarmt. Ist das schlimm? Nein, es ist nicht schlimm! Ach, Mist, ich plappere!"
Genervt schüttelte Jade die fast trockenen Zöpfe aus, ehe sie den Föhn energisch wegpackte. Sie massierte sich die Schläfen mit den Fingerspitzen.
"Du regst dich jetzt ab. Ihr wollt über Bücher reden, nur über Bücher. Du magst Bücher. Es ist egal, daß er dafür in deinem Haus ist. Gaaaaaanz ruhig."
Sie atmete noch mehrmals tief und bewußt und fühlte, wie die Anspannung langsam wieder sank. Ein paar Minuten für sich, das war alles, was sie gerade brauchte. Noch ein paar mal atmen, dann würde sie schauen, wo er steckte.

Caleb stand draußen am gluckernden Fluß und sah über das Wasser hinaus. Wenn man der Wahrheit die Ehre gab war es nicht mehr als ein Kanal, aber wenigstens ein sauberer und ohne Schiffahrt. Jade hatte eine Angelstelle fast direkt hinter ihrem Haus, die sogar recht regelmäßig genutzt zu werden schien. Als er um die Ecke des Hauses gebogen war hatte er einen Teenager mit einem Mann, vermutlich seinem Vater, mit Angelzeug davonschlendern sehen. Es war zwar ganz idyllisch hier, doch diese Stelle war garantiert nicht Jades liebstes Verkaufsargument an ihrem Haus gewesen. Er kicherte und hätte sie am liebsten direkt danach gefragt. Aber er war allein hier. Einen kurzen Augenblick lang schoß ihm eine Frage durch den Kopf. 'Warum tue ich mir das eigentlich an? Gibt es in dieser Stadt keine anderen Leute, die ich kennenlernen kann?'
Mit einem Schnauben schob er den Gedanken von sich. Er konnte es sich ja selbst nicht wirklich erklären, aber er fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart. Ihm gefiel ihre teils ungewollte und tapsige Ehrlichkeit ihm gegenüber. Das war selten unter den Menschen, und es war ein weiterer Baustein in dem großen Puzzle sich an sein eigenes früheres Leben zurückzuerinnern. Zugegeben, ein wenig Beschützerinstinkt war wohl auch dabei, nicht zuletzt weil sich herausgestellt hatte, daß sie in derselben Firma arbeitete wie er. Caleb war fest der Meinung, daß Jade davon profitierte mit ihm üben zu können ihre Angst unter Kontrolle zu bekommen. Es fühlte sich gut an zur Abwechslung hilfreich für einen Menschen zu sein, und vielleicht konnte er im Gegenzug irgendwann von ihr profitieren, wenn ihn wieder einmal der Hunger trieb oder sie ihn noch mehr ihrer Bekannten vorstellte, wie sie es heute mit Summer getan hatte. Eine Flügelfrau zum Aufbauen von Beziehungen mit Menschen konnte nur hilfreich sein. Außerdem war sie wirklich sehr unterhaltsam, wenn sie gerade keine Angst hatte, und selbst in dem Bezug konnte er heute nicht klagen. Er war schon über eine Stunde hier und ihre Nerven flatterten erst jetzt, da konnte er ihr ein paar Minuten, um sich zu sammeln, ruhig gönnen. Allerdings hoffte er, daß sie nicht zu lange brauchen und es sich erst recht nicht anders überlegen würde, denn er war tatsächlich gespannt darauf zu erfahren, was sie ihm als ihre Lieblingsbücher zeigen wollte.

Der Vampir lenkte seinen Blick auf die Gebäude am anderen Flußufer. Nur wenige Meter weiter führte eine Brücke mit Straße über das Wasser, es war daher kein weiter Weg von dort hierher. Aufmerksam spähte er in die Runde, konnte aber kein Wohnhaus ausmachen, bei dem die Rolläden um diese Zeit geschlossen waren oder dichte Vorhänge vor den Fenstern hingen. Er spürte auch keinen seiner Art in der unmittelbaren Umgebung. Das war mäßig beruhigend. Viele Vampire jagten heutzutage aus Faulheit nur in der Nähe ihrer Behausung, doch es gab auch noch mehr als genug, die weiter reisten, um ihre Spuren zu verwischen und kein Mißtrauen unter ihren Nachbarn zu schüren.

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Kommentare   

+1 # mjkj 2018-06-06 10:45
Hmm, ich wundere mich, wann er sich dazu durchringt, ihr zu sagen, daß Vampire real sind... :P ;-)