Es hatte fast eine Woche gedauert, bis der Streß auf Beryls Arbeit genug abgenommen hatte, daß sie sich endlich um angenehmere Dinge kümmern konnte, und so war es schon wieder Freitag geworden.
"So, jetzt bin ich mal eine gaaaanz liebe Nachbarin!" meinte Beryl zu sich selbst, als sie am Morgen über die Straße eilte, um T. Brighton einen Besuch abzustatten.
Sie hatte gesehen, daß vor einer Stunde die Vorhänge am Kopfende des Trailers aufgezogen worden waren. Das mußte das Schlafzimmer sein, und eine Stunde sollte doch wohl genügen für Morgentoilette und Frühstück. Es blieb ihr zwar nicht allzuviel Zeit vor der Arbeit, aber für einen kurzen Besuch, um sich vorzustellen, sollte es reichen. Da sie inzwischen wußte, daß ihr Nachbar abends und nachts arbeitete, hatte es keinen Sinn ihn erst nach ihrer eigenen Schicht zu besuchen, und sie hatte bereits zweimal erfolglos versucht ihm einen Kurzbesuch abzustatten und wollte nicht erneut riskieren ihn zu verpassen.
Gespannt darauf, ihn aus der Nähe zu begutachten, stieg sie die Stufen zur Haustür hinauf und klopfte.
"Komm rein, es ist offen!" tönte es aus dem Inneren des Hauses. Überrascht drehte Beryl den Türknauf, und die Pforte ging tatsächlich auf. 'Er weiß doch gar nicht, wer ich bin. Sehr leichtsinnig.'
Die Frau trat ein und blieb erst einmal geplättet stehen. Das Innere des Trailers bot sich als urgemütliches Wirrwarr aus kunterbunt gemischten Möbeln und männlicher Schlichtheit dar. Mit Holz verkleidete, dunkelgrau gestrichene Wände und ein hellgrauer Teppich bildeten den Hintergrund, auf dem ein rotes Sofa und ein Sessel von ähnlicher Farbe, doch in anderem Stil bunt hervorstachen. Ein massiver Standleuchter mit roten Kerzen und grüne, blickdichte Vorhänge vorm größten Fenster sorgten für ein wenig Behaglichkeit. An der Theke der winzigen offenen Küche standen teure Barhocker, doch hinter dem Sofa gab es auch einen kleinen Picknicktisch mit zwei simplen Stühlen. Auf einer zum Beistelltisch umfunktionierten alten Obstkiste thronte eine billige Musikanlage. 'Was für ein kreatives Chaos...'
Lebensmittelpunkt schienen ein Mikrofonständer und der Fernseher zu sein, vor dem der Bewohner des Hauses momentan hockte und offenbar eine Komödie ansah. "Einen Moment, bitte!" rief er und sah genauer hin. "Diese Szene darf ich nicht verpassen."
Beryl grinste. Ihr Nachbar sah gut aus. Sie ging hinter der Couch und dem Eßtisch entlang, um ihm nicht durchs Bild zu laufen, und setzte sich dreist neben ihn. "Hallo, Nachbar!" grüßte sie fröhlich, als die Szene zu Ende schien. Der Blondschopf sah ruckhaft auf, als er die fremde Stimme hörte, und seine Augen wurden groß angesichts des unerwarteten Gasts.
"Wow! Hallo! Entschuldigung - kennen wir uns?"
"Noch nicht! Ich bin deine Nachbarin von gegenüber und dachte mir, es wäre an der Zeit, daß wir uns endlich kennenlernen."
"Na, das sehe ich aber auch so!" rief er begeistert. "Nun sieh einer an, was für eine prächtige Nachbarin ich um ein Haar verpaßt hätte! Ich bin Thilo. Thilo Brighton. Willkommen in meinem kleinen Schloß!"
"Hi Thilo, ich bin Beryl Landon", stellte sie sich lächelnd vor und sah ihn genauer an. Sie hatte recht damit gehabt, daß er einen Bart trug, aber mit gepflegten Bärten konnte sie gut leben, und den Anspruch erfüllte er. Ansonsten sah er genauso aus wie sein Profilfoto auf Simbook, und was sie sah gefiel ihr gut. Sie mußte ihn ja nicht wissen lassen, daß sie seinen Vornamen schon herausgefunden hatte und auch wußte, in welcher Branche er arbeitete. Faszinierend waren seine Augen, denn sie hatten die gleiche grüne Farbe wie ihre. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit für so einen Zufall?
Der Mann wandte sich ihr interessiert zu. Seine Körpersprache war sehr offen und er gestikulierte viel. "Schockierend, daß ich es bislang versäumt habe herüberzukommen! Zu meiner schwachen Verteidigung kann ich nur sagen, daß ich selbst noch nicht sehr lange hier wohne. Bis vor kurzem war ich noch damit beschäftigt mich einzurichten."
"Ach, das kann ich verstehen! Außerdem habe ich ja auch Füße und hätte mich früher vorstellen können, aber ich hab dich glatt übersehen."
"Übersehen?! Ich wurde übersehen?! Meine ganze Existenz erscheint mir plötzlich so sinnlos!" rief er in gespieltem Entsetzen.
Beryl winkte ab. "Tut mir leid, ich dachte die ganze Zeit dieser Trailer sei unbewohnt, weil kein Licht brannte. Da hab ich mich gründlich geirrt! Nett hast du's hier!"
"Oh, danke! Ich kann auch nicht klagen, ich habe hier alles, was ich brauche."
"Wirklich alles?" fragte sie und legte ein leichtes Timbre in ihre Stimme, das Thilos Brauen in die Höhe schnellen ließ. "Du sitzt hier am hellichten Tag und schaust fern, da scheint mir, daß noch etwas fehlt."
"Oh, das! Das ist kein Vergnügen, weißt du", erklärte er grinsend, stoppte sich und fing noch mal neu an. "Also, es macht natürlich schon Spaß - sich mit langweiligen Filmen abzugeben würde ja keinen Sinn machen. Aber ich schaue mir diese Komödien für die Arbeit an, Beryl. Ich bin Komiker, mußt du wissen, da muß man stets auf dem Laufenden sein, was gerade gut ankommt bei der breiten Masse."
"Ah, ich verstehe. Du betreibst Recherche."
"So sieht's aus! Nur wahren Meisterspionen des Humors gelingt es den Thron der Scherzbolde einzunehmen, und genau dort will ich hin, so viele Filme ich auch schauen muß! Ein immenses Opfer für die Kunst." Er seufzte theatralisch.
"Und wo ist Mrs. Brighton?"
"Noch ganz weit hinter dem Horizont meiner schmutzigsten Träume. Trifft sie sich da vielleicht mit Mr. Landon?" fragte er in lockerem Plauderton.
"Kann gut sein, ich warte seit Jahren darauf, daß der Blödmann sich meldet."
"Tja, Mrs. Brighton ist nun mal entzückend und lenkt selbst den rechtschaffendsten Mann ab, damit müssen wir uns wohl beide abfinden! Vielleicht können wir uns gegenseitig trösten. Was machst du beruflich?"
"Ich habe eine ganze Menge gemacht, seit ich hier wohne. Erst war ich Kritikerin, dann kurz in der Gastronomie. Jetzt habe ich meinen Platz in der Kunst gefunden, ich bin Malerin."
"Nenn es verrückt, aber etwas in der Art dachte ich mir. Thilo, dachte ich, wenn das kein Model ist, dann ist sie Künstlerin. Drei Karrieren in so kurzer Zeit sind allerdings eine Hausnummer. Du wohnst höchstens ein paar Monate da drüben, oder war ich schon wieder eingeschneit und habe es nicht gemerkt?"
Die Art, wie er sie anlächelte und seine Blicke dann und wann wandern ließ, zeigte deutlich, daß er nicht uninteressiert war, und obwohl er ungewöhnlich viel redete fand sie ihn höchst unterhaltsam. Beryls Lächeln ging in die Breite. "Ja, ich bin sehr experimentierfreudig, was Jobs angeht, und nicht nur da."
"Sieh an, sieh an. Magst du das näher ausführen?"
"Dafür ist die Altersfreigabe nicht hoch genug zu dieser Tageszeit."
"So, so. Ich muß allerdings zugeben, daß ich mich ebenfalls nicht daran erinnern kann dich schon einmal gesehen zu haben. Was selbstverfreilich unverzeihlich ist, aber bist du bei so vielen Karrieren in so kurzer Zeit überhaupt mal daheim?"
"Doch, schon. Aber wenn ich mich zum Job teleportieren könnte, ich würde es tun!"
"Wie, tust du das nicht? Ich dachte, so bewegen sich hier alle fort!"
"Nein, ich reise noch per Riesenadler! Ganz umweltfreundlich!"
Er lachte. "Du bist dir sicher, nicht zwischendurch auch in meinem Metier gewildert zu haben?"
"Besteht dein Publikum größtenteils aus attraktiven Single-Männern? Dann könnte ich mir vorstellen noch mal zu kündigen und mich neu zu orientieren!"
"Laß es mich so ausdrücken: An deiner Stelle würde ich an deinem Job festhalten. Bislang haben Groupies eher noch Seltenheitswert", gab er in vertraulichem Ton zu und sah sie mit blitzenden Augen an.
"Zu schade. Warum machst du den Job dann?"
"Es gibt nichts schöneres, als Menschen zum Lachen zu bringen! Was willst du denn mit deinen Bildern erreichen?"
Es war eine Frage, auf die er nicht wirklich eine Antwort erwartete, und beide grinsten nur verschmitzt, bis Thilo fragte: "Was magst du sonst so, außer der Malerei und attraktiven Groupies?"
"Laß mal sehen. Ich spiele Geige, lese gerne Krimis und mag Sport", zählte sie auf. Ohne auch nur hinzusehen griff der junge Mann nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher auf den Sportkanal um. Beryl lachte. "Sehr aufmerksam!"
"Man ist doch jederzeit gerne Romantiker."
"Ja, es sind wirklich die kleinen Dinge, mit denen man eine Frau beeindrucken kann", schmunzelte sie.
"Na, das wäre mir neu!" fuhr er auf.
"Man kann wirklich viel Spaß mit dir haben, huh?" Zum ersten Mal seit Wochen lachte sie wirklich befreit. Es war ein herrliches Gefühl neben ihm auf der Couch zu sitzen und endlich etwas zurückzubekommen, einfach nur zu flirten anstatt die ganze Zeit das Gefühl zu haben Zähne zu ziehen wie mit dem Vampirchen.
"Ich will doch hoffen, daß man mit mir Spaß hat, was wäre ich sonst für ein Komiker?"
Sie lachte und sah ihm in die Augen, als im Fernsehprogramm plötzlich die Zeit genannt wurde. "Mist! Ich muß zur Arbeit!"
"Das Leben ist nicht fair zu dir. Zu mir. Ich werde darüber nachdenken, für wen es schlimmer ist. Da habe ich doch direkt den Aufhänger für mein nächstes Bühnenprogramm!"
"Stets gern zu Diensten zur Ideenfindung!" Sie grinste und erhob sich. "Es war wirklich nett, dich kennenzulernen, Thilo. Diese Bekanntschaft sollten wir unbedingt vertiefen."
"Ich kann's kaum erwarten!" versprach er.
Beryl war bewußt, daß er ihr auf den Hintern starrte, als sie zur Tür ging, und sie genoß es. Sie genoß es sogar so sehr, daß sie ihn würde zappeln lassen.
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