Verunsichert wich Caleb bis an die Wand zurück. Er hatte ihr erklären wollen, daß das ein echter Vampir gewesen sei. Doch etwas in ihrer Stimme und vor allem ihr Weinen ließen ihn erschauern. Wenn er nun versuchen würde ihr klarzumachen, was passiert war, und daß er das so genau wußte, weil er selbst ein Vampir war, dann, so sagte er sich, würde eine von zwei Situationen eintreten. Entweder sie glaubte ihm nicht und warf ihn hinaus, vermutlich für immer oder wenigstens für sehr lange Zeit, weil sie glauben mußte, daß auch er Teil des bösen Streichs sei. Oder sie glaubte ihm und warf ihn ebenfalls hinaus, weil Vampire ihr gerade große Angst einflößten. Eine dritte Möglichkeit, nämlich die, daß sie ihm Glauben schenkte und keine Angst hatte, konnte er sich nicht vorstellen. Ein andermal vielleicht, wenn sie weniger aufgewühlt war und Zeit hatte zu vergessen. Dank Straud und seiner eigenen Trödelei hatte er das Zeitfenster verpaßt, sie auf positive Weise auf Vampire vorzubereiten.
Caleb wollte sie nicht als Freundin verlieren, dafür war er auf einem zu guten Weg. Seine einzige Chance, die Beziehung zu erhalten, sah er momentan darin, ihr ein guter Freund zu sein, bis sie es von selbst merkte. Er hoffte, daß er sie bis zu diesem hoffentlich fernen Zeitpunkt durch sein Verhalten davon überzeugt haben würde, daß nicht alle Vampire böse waren.
"Hör bitte zu", versuchte er sie zu beschwichtigen, "Den Kerl, der vor deiner Tür stand, hat nicht deine Kollegin angeheuert."
"Wieso glaubst du Sally mehr als mir?" fragte sie, völlig verwirrt.
"Das tue ich nicht. Ich kenne diese Sally nicht einmal. Aber ich kenne den Mann, der dir solche Angst gemacht hat."
"Was?!"
"Jade, er ist stadtbekannt dafür, diese Dinge zu tun. Viele Leute haben ihn schon gesehen, vor allem junge Frauen wie du. Es bereitet ihm Freude, dir Angst zu machen."
"Das war ein echter Irrer?!" Ihr blieb der Mund offen stehen. "Das ist ja noch schlimmer!"
Der Vampir atmete auf, als sie seiner Erklärung zu glauben begann. Er fühlte sich nicht ganz wohl dabei, ihr nur die halbe Wahrheit zu sagen, aber nichts, was er bislang gesagt hatte, war gelogen gewesen. "Etwas in der Art, ja. Bitte glaube mir, er ist gefährlich. Schließe abends deine Tür gut ab, und wenn er noch einmal auftaucht mache auf keinen Fall auf, ganz egal was er sagt. Wenn du draußen bist und er taucht auf, geh sofort ins Haus und schließe ab. Schalte alle Lichter ein, nicht aus, verbarrikadiere dich im Bad und rufe die Polizei, wenn du dich dann sicherer fühlst."
"Okay, das mache ich."
"Versprochen?"
"Ja, fest versprochen." Jade wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. "Jetzt kann ich kaum noch glauben, daß ich das für einen bösen Streich gehalten habe."
"Ist schon gut. Du Ärmste bist ja ganz aufgewühlt. Laß uns von etwas anderem reden. Komm, wir setzen uns aufs Sofa, und du erzählst mir mehr über deine Beförderung, ja?"
"Ja, gut. Ich fürchte, jetzt wirst du mir bald Schach spielen beibringen müssen, Caleb! Mein neuer Boss verlangt nun Logik von mir."
"Das werde ich mit tausend Freuden tun, Teuerste! Schon morgen, wenn du magst."

Sie setzten sich, und Jade berichtete eine Weile von ihrem neuen Arbeitsplatz und den Herausforderungen, die ihr dort gestellt wurden. Verschämt erzählte sie auch noch davon, wie ihr im Fahrstuhl einer ihrer Chefs begegnet war und sie versucht hatte ein Gespräch über lustige Katzenfotos mit ihm anzufangen, um Kontakt zu knüpfen. Der Versuch war ziemlich in die Hose gegangen, doch außer einer sehr unangenehmen Situation hatte er keine Folgen gehabt. Schließlich seufzte die junge Frau. "Immer geht es nur um meine Probleme! Wie war denn deine Woche?"
"Ach, das übliche. Viel Arbeit und wenig Vergnügen", wehrte er ab. Es war tatsächlich nicht viel los in seinem Leben, sonst würde er ja nicht den Kontakt zu Menschen suchen. Er hätte ihr von seiner eigenen Beförderung zum leitenden Angestellten erzählen können, aber das hielt er nicht für sehr angebracht, wo sie so viele Stufen unter ihm war. Von seinen Problemen, als nachtaktive Kreatur am Tag arbeiten zu müssen, konnte er zum jetzigen Zeitpunkt ja schlecht sprechen. Nach ihren Enthüllungen war er allerdings auch zu angespannt, um viel zu erzählen. "Selbst die Schachabende mit meiner Schwester sind in jüngster Zeit oft ausgefallen. Sie hat eine neue Stelle angetreten im Raumfahrtzentrum und ist in der Nachtschicht. Immerhin habe ich so dein Buch lesen können, und es war sehr spannend." Caleb gab ihr den Roman zurück, den er die ganze Zeit in der Tasche gehabt hatte.
"Echt? Das freut mich, Caleb! Schön, daß ich wenigstens einmal etwas für dich tun konnte, auch wenn es nur ein geliehenes Buch war. Auch wenn wir uns noch nicht so lange kennen, ich weiß es wirklich sehr zu schätzen, wie du immer für mich da bist", gab sie zu und sah ihn verlegen an. "Es macht Spaß, sich Nachrichten schreiben zu können."
Er lächelte schwach - im Moment zog er es vor, wenn sie seine Zähne nicht sah. "Wenn du etwas für mich tun willst, dann löse doch dein Versprechen vom letzten Mal ein. Du wolltest mir erneut etwas vorspielen, weißt du noch?"
"Oh, ja! Ich habe jeden Abend geübt! Hast du einen besonderen Wunsch?" Sie sprang auf und griff nach der Gitarre.
"Wie, beherrscht du etwa bereits mehrere Lieder?"
"Aber sicher! Ein halbes Dutzend oder so? Paß auf, das ist eins meiner liebsten!"

Die junge Frau begann zu spielen, und wieder sah der Vampir, wie eine deutliche Verwandlung mit ihr vorging, doch diesmal viel deutlicher als beim letzten Mal. Es fing schon damit an, daß sie heute nicht versucht hatte, ihm die Bitte abzuschlagen, und es war, als stünde dort eine andere Person. Selbstbewußt schlug sie die Saiten an, als hätte sie nie etwas anderes getan, und ihre Augen waren glückselig geschlossen, als sei sie völlig allein auf der Welt. Es war eine ruhige Ballade, die sie ihm vortrug, und sie spielte mit solcher Leidenschaft, daß er selbst mit einem besseren musikalischen Gehör als seinem wohl nicht hätte sagen können, ob es eine falsche Note im Lied gegeben hatte. Er war viel zu gebannt von ihrem Spiel. Nur eine Woche lag zwischen ihrem letzten, nur widerwillig vorgetragenen Ständchen und diesem hier, das sie freudig und stolz für ihn spielte. Es war wunderschön. Sie war wunderschön in diesem Moment der Hingabe. Caleb hätte ihr die ganze Nacht über zuhören können. Diese Frau war völlig verkehrt in der Business Karriere, das mußte ihr doch ebenso klar sein wie ihm. Wenn sie nur deshalb keine Musikerin war, weil sie die Bühne fürchtete, würde er alles in seiner Macht stehende tun, um ihr genug Selbstvertrauen einzuflößen es irgendwann zu versuchen. Jeder Tag, den sie im Büro verbrachte statt in einem Club vor Publikum, war aus seiner Sicht ein verschwendeter Tag.

"Und, wie hat es dir diesmal gefallen?" fragte sie, nachdem sie geendet hatte. "Aber denk dran, du bist noch genauso an dein Wort gebunden wie beim letzten Mal! Sei ehrlich!"
"Mir würde gar nichts einfallen, über das ich lügen könnte!" rief er. "Das war ganz hervorragend, Jade Sparkle!"
"Du hast die falsche Note in der zweiten Bridge nicht gehört?" fragte sie zweifelnd.
Er hob die Hände. "Ich fürchte, du hast in der einen Woche meine Kompetenz als Zuhörer bereits übertroffen mit deiner Instrumentenbeherrschung. Für mich klang es um Welten besser als beim letzten Mal. Für fachliche Detailkritik mußt du leider jemanden fragen, der weiß, was eine Bridge ist. Oder vor mehr Leuten spielen."
"Ich, vor Publikum? Ein guter Witz, Caleb!" Sie lachte befreit, streifte den Gurt ab und stellte ihr Instrument fast zärtlich an seinen Platz zurück, ehe sie sich wieder neben ihm aufs Sofa plumpsen ließ.
"Ich meine es ernst. Wieso bist du nicht in der Unterhaltungsindustrie?"
"Du weißt warum, oder?" Ihr Gesicht nahm einen traurigen Ausdruck an, und genau das wollte er nicht sehen.
"Ist schon gut, reden wir ein andermal darüber!" wechselte er das Thema, "Du hast schon so viel gelernt für deine erste Beförderung, und nun soll also Schach dein weiteres berufliches Vorankommen fördern, richtig?"
"Richtig!"
"Es wird mir eine Freude sein dich darin zu unterrichten. Doch leider muß ich langsam los, laß uns daher bitte eine Zeit für morgen ausmachen."
"Du mußt schon wieder gehen?" fragte sie enttäuscht.
"Ich bin untröstlich, aber ich habe noch Besorgungen zu machen. Ich wollte dir nur schnell dein Buch vorbeibringen. Wie wäre es morgen um die Mittagsstunde herum, wäre die Zeit in Ordnung für dich?"
"Perfekt. Danke, Caleb, und bis morgen!" Sie umarmte ihn glücklich auf der Couch, was er verdutzt aber zufrieden erwiderte.

Der Vampir ging noch nicht direkt nach Hause. Wie ein Schatten umrundete er mehrmals das Haus, wanderte unruhig zwischen den dunklen Bäumen umher. Glühwürmchen tanzten um ihn herum, doch er beachtete sie nicht. "Warum mußte es ausgerechnet Straud sein, der sie entdeckt hat?" seufzte er. Jeder andere Vampir mit ein wenig Grips im Kopf hätte es akzeptiert, wenn Caleb pro Forma Anspruch auf Jade als Nahrungsquelle erheben würde, aber doch nicht Straud! Mit dem brauchte er gar nicht erst zu versuchen, ein Gespräch zu führen. Selbst als Nachbar hatte er ihm und Lilith schon genug Scherereien bereitet.
Caleb konnte nur hoffen, daß Straud das Interesse an ihr verloren hatte, nachdem er beim ersten Versuch keinen Erfolg gehabt hatte. Sein Rat an Jade die Tür abzuschließen war nur der Versuch gewesen ihr ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Es gab aber keine Sicherheit vor einem Vampir auf Beutezug, vor allem nicht vor einem derart mächtigen. War die Nacht erst tief genug und der Mensch schlief, dann hielt kein Schloß den erwachenden Kräften seines Volkes stand. Er hätte ihr Knoblauch empfehlen sollen, aber damit schnitt er sich ins eigene Fleisch. Unschlüssig seufzte er.

Im Haus wurde es dunkel, nur aus dem Schlafzimmerfenster drang noch ein wenig Licht.
Caleb spürte ein seltsames Gefühl tief in seinen Eingeweiden, das er nicht recht einzuordnen wußte. War das Sorge um sie? Weil sie mit etwas Pech unfreiwillig zu einem Vampir werden könnte und das gleiche Schicksal erleiden würde wie er? Er dachte zurück an ihr entrücktes Gesicht beim Musizieren, spürte für eine Sekunde ihre warme Umarmung und war sich sicher, daß ihn das unendlich traurig machen würde. Vielleicht sollte er ihr doch Knoblauch vorschlagen? Er war sich jedoch nicht einmal sicher, ob das einen Vampir von Strauds Format noch stoppen konnte. Wenn Knoblauch überhaupt noch Wirkung zeigte, dann eventuell nur in Mengen, die für einen recht jungen Vampir wie Caleb ein gefährliches Maß erreichten.
Er schob den Gedanken von sich, als sich sein eigener Hunger meldete. Es war Zeit fürs Abendessen.

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