Jade und Caleb

 

Er drückte sich teilweise seltsam sperrig aus, wie eine Figur aus den klassischen Romanen, die sie als Teen so gerne verschlungen hatte und auch heute noch im Fernsehen in Kostümfilmen liebte. Trotz ihrer gereizten Nerven mußte die Schwarzhaarige sich zurückhalten, nicht automatisch in einen ähnlichen Ton zu verfallen.
"Mein Name ist Jade. Jade Sparkle."
"Jade! Ein wesentlich faszinierenderer Name als John, die Nachbarschaft sollte sich daher glücklich schätzen über diese Aufwertung. Wer würde nicht mit immenser Neugier auf eine Dame mit einem derart entzückenden Namen reagieren wollen? Es ist mir eine große Freude dich kennenzulernen, Jade Sparkle."
'Oh du meine Güte! Flirtet der etwa mit mir? Das bilde ich mir ein, oder?' dachte sie schockiert und spürte, wie ihre Wangen wärmer wurden. Das konnte nicht sein. Es hatte noch nie jemand mit ihr geflirtet. Nicht, daß sie den Jungs jemals viel Gelegenheit dazu gegeben hätte mit ihrer scheuen Art. Sie war immer lieber alleine gewesen. Aber trotzdem...

Caleb beobachtete interessiert, wie sich ein ganzer Roman an Gedanken und Gefühlen auf dem Gesicht seines Gegenübers zu entfalten schien. Es arbeitete ausdrucksstark in den Zügen der jungen Frau, obwohl er den Eindruck hatte, daß sie ihm gar nicht wirklich zuhörte. Es hatte ihn nicht überrascht, daß sein Bekannter wortlos das Haus aufgegeben hatte und weggezogen war. Das erklärte zumindest, warum John in den letzten Wochen nie aufgemacht hatte. Er hatte wirklich gedacht, sie seien Freunde gewesen, doch wie so oft zuvor war er wieder einmal von einem Menschen enttäuscht worden.
Andererseits gefiel ihm der Ersatz bislang sehr gut. Es war ihm nicht entgangen, wie sie ihm den Weg ins Haus abgeschnitten hatte in ihrem Irrglauben, draußen sei es sicherer. Das war putzig, aber auch irgendwie traurig, denn es würde ihr nicht helfen, wenn sie an einen weniger höflichen Vertreter seiner Spezies geraten sollte.
Als sie weiterhin nicht antwortete entschied er, das Gespräch selbst wieder aufzunehmen. "Lebst du allein hier, Jade?" fragte er etwas lauter.

'Oje! Wieso will der das wissen?' durchfuhr es sie. 'Ist er vielleicht ein Entführer oder gar ein Mörder?'
"Vielleicht. Vielleicht auch nicht", sprudelte es trotzig aus ihr heraus, wobei sie zur Tür zurückwich. 'Ooooh, was labere ich hier!' Sie biß sich auf die Unterlippe und meinte mit fester Stimme: "Ist das wichtig?"
"Nun, mein Bekannter ist weggezogen. Ergo habe ich einen Platz im Adressbuch frei und interessiere mich infolgedessen für meine neuen Nachbarn. Oder ist es doch nur meine eine neue Nachbarin?" Es funkelte schelmisch in seinen Augen.
'Oh wei, oh wei, oh wei, flirtet er etwa doch?!'

Sie hatte eine stabil gebaute, klassische Figur, diese Jade Sparkle. Zudem schien sie ein Mauerblümchen zu sein und Umgang zu scheuen, denn wieso hatte sie sonst weder Helfer noch Willkommensparty an ihrem Einzugstag und lebte ganz eindeutig allein? Die Art, wie sie ständig den Blick senkte und die Mütze tief ins Gesicht gezogen hatte, sprach Bände, und er hatte nur pro Forma nach Mitbewohnern gefragt. Beides, ihre Konstitution und ihr Alleinsein, machte sie zum perfekten Opfer für seine Brüder und Schwestern.
Der Mann konnte ihre Angst förmlich riechen. Das mißfiel ihm. Nichts lag ihm ferner als sie einzuschüchtern, aber sie hatte ihn nun einmal nicht hereingelassen ins Licht, und sie selbst bot nicht viele Ansatzpunkte für ein Gespräch, so ruhig wie sie war. In ihrer Wohnung hätte er ihre Interessen besser einschätzen können, doch er akzeptierte ihr gesundes Mißtrauen. Was konnte er tun, um diese Situation zu retten? Natürlich hätte er sie mit seinen Kräften mit Leichtigkeit zwingen können alles zu tun und zu offenbaren was er wollte, doch das war zum einen unter seiner Würde, und zum anderen wollte er endlich echte Freunde finden und nicht erneut eine Niete ziehen wie mit John. Vielleicht war in diesem Moment ein taktischer Rückzug die klügere Wahl.
"Verzeih mir, Jade Sparkle. Ich scheine dir Angst zu machen", ging er ohne Umschweife zur Umsetzung seines Vorsatzes über. "Kaum verwunderlich, nachdem ich dich dermaßen überfalle mit meinem Besuch. Das tut mir sehr leid. Hätte ich gewußt, daß ich statt John dich hier antreffen würde, wäre ich am Nachmittag vorstellig geworden, so wie es sich gehört. Vielleicht darf ich demnächst erneut meine Aufwartung machen, und wir plaudern dann ein wenig weiter? Hier, auf der Veranda?"

"Oh, ist schon gut! Mein Licht hier draußen tut noch nicht, blödes Teil. Deshalb ist es hier so dunkel..." Sie hatte keine Ahnung wieso, aber nachdem er angeboten hatte zu gehen entspannte die junge Frau sich um Längen. Es war noch immer eine stressige Situation für sie mit einem Fremden zu reden, aber sie war hierher gezogen, um zu lernen mit so etwas umzugehen.
"Du hast nicht zufällig Ahnung von Elektrik?"
"Bedaure, nein!" lachte er und entblößte dabei strahlend weiße Zähne. Seine Eckzähne kamen ihr seltsam spitz vor. Fast wie bei einem... 'Eh... das bilde ich mir ein.'
"Schade. Aber du kannst trotzdem gerne noch ein wenig bleiben, Caleb", lud sie ihn ein und spürte schon wieder ihre Wangen glühen. Hoffentlich konnte er das wenigstens nicht sehen in der Dämmerung. Sie kam sich vor wie ein albernes Schulmädchen, sah an jeder Ecke Gefahr und bildete sich gleichzeitig ein, der Prinz aus dem Märchen würde mit ihr schäkern. 'Der will sicher nur höflich sein und will gar nichts von mir', versuchte sie ihre flatternden Nerven zu beruhigen. Allerdings mußte sie sich ehrlich eingestehen diese Einbildung zu genießen. War doch nichts dabei, ein nettes Gespräch mit einem süßen Kerl zu führen und ein bißchen zu träumen, oder? 'Du bist total peinlich, Jade!'

Erneut schlief das Gespräch ein, weil sich sein Gegenüber in ihre eigene kleine Welt zurückzog. Es wurde zwar langsam dunkel, aber Caleb hatte andere Sinne, die ihm einiges über Menschen verrieten. Momentan pochte das Blut viel kräftiger durch den Körper vor ihm. Dies überraschte ihn nicht, hatte er den Effekt doch ständig auf Frauen. Seine Anziehungskraft hatte ihm unzählige Mahlzeiten verschafft in den letzten Jahrhunderten, und er hatte sie nahezu perfektioniert. Ungewöhnlich war nur, daß er es in diesem Moment kein bißchen darauf anlegte, sie in seinen Bann zu ziehen, er hielt sich im Gegenteil explizit zurück.
Amüsiert betrachtete er ihr Gesicht und wartete ab, ob sie sich noch fangen würde.

'Was sieht er mich so komisch an? Oje, er hat es gemerkt!' Jade wollte im Erdboden versinken. 'Ehrenrettungsmission, jetzt! Plaudere, Jade! Plaudere um dein Leben!'
"Sooooo... Wir sind also Nachbarn? Lebst du auch hier in der Straße?"
"Nein, meine Schwester und ich teilen uns ein Haus drüben in Forgotten Hollow."
"Hab ich noch nie gehört. Wo ist denn das?" machte sie ehrlich erstaunt.
"Auf der anderen Seite von San Myshuno, in den Bergen", erklärte der Mann bereitwillig. "Es ist ein sehr kleiner, exklusiver Ort. Ihn nicht zu kennen ist keine Schande, gerade für einen Neuankömmling."
"Das ist aber nicht gerade in der Nachbarschaft!"
"Damit hast du recht, Jade, aber es macht mir nichts aus ein wenig zu reisen, um Freunde zu besuchen."
"Dann hast du viele Freunde?"
"Nicht so viele, wie ich gerne hätte", meinte er wahrheitsgemäß und wunderte sich über seine eigene Offenheit. Ihre Antwort wunderte ihn noch mehr.
"Da geht es dir dann wohl wie mir." Jade faltete die Arme vor der Brust und rieb sich die Oberarme, als würde sie frieren. "Es... tut mir leid, wenn ich ab und zu etwas entrückt wirke. Ich komme nicht so gut mit Menschen klar. Manchmal merkt man das leider."
Wieso erzählte sie das einem quasi Fremden? Jetzt würde er sie nicht nur für komisch und pervers halten, sondern schlicht und einfach für völlig bekloppt. Rasch fügte sie hinzu: "Sorry, was brabble ich da... War ein langer Tag heute. Ich glaube, ich weiß langsam nicht mehr, was ich rede."

 

"Schon gut." Er sah in dieses Gesicht, das sich hinter Mütze und Brille zu verbergen suchte, und spürte einen flüchtigen Moment lang so etwas wie... ja, was eigentlich? Rührung? Dankbarkeit? Es war sehr selten, daß ein Mensch solche Ehrlichkeit mit ihm teilte, und keine seiner Kräfte hätte daran etwas ändern können. Diesen Charakterzug hatte sie sicher nicht gerne zugegeben, gerade ihm gegenüber, den sie kaum eine Viertelstunde kannte. Wie unangenehm es ihr gewesen war sah er daran, wie sie nun durch seine Brust hindurchstarrte.
Caleb streckte die Hand nach ihrer Schulter aus, um ihr gut zuzureden, doch mitten in der Bewegung verharrte er und ließ den Arm sinken, als sie ihm unvermittelt ins Gesicht schaute und dabei den Eindruck eines Hasen vor der Flinte erweckte.
"Du bist eine interessante Person, Jade Sparkle", sagte er mit einem unsicheren Lächeln. Plötzlich spürte er das Handy in seiner Jackettasche vibrieren. "Verzeihung, das muß ich mal eben..." - "Klar, kein Ding." Sie schien erleichtert über die Ablenkung.
Er schaute auf seine Nachrichten. Lilith hatte mal wieder Ärger mit Straud. Caleb seufzte. "Ich muß jetzt leider gehen. Darf ich in der nächsten Woche wiederkommen?"
Sie grinste schief und zog die Schultern hoch. "Klar, wieso nicht. Laß uns die anonymen Freundesucher gründen."
"Das klingt nach einem hervorragenden Plan. Auf bald, und schlaf gut, Jade."
"Gute Nacht! Komm gut nach Hause, Caleb."

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