Am nächsten Freitag saß Jade gerade in der Pause, als ihr Handy klingelte, und da sie endlich herausgefunden hatte, wie man individuelle Klingeltöne pro Anrufer einstellte, wußte sie schon vor dem Abnehmen, daß es ihr bester Freund war, und freute sich. "Hey Caleb, was gibt's?"
"Hallo Jade! Denkst du, du könntest heute vielleicht ein wenig früher Schluß machen?"
"Es ist nicht viel los, also denke ich schon. Wieso, was hast du denn vor?" fragte sie verwundert und hoffte, daß er nicht wieder mit ihr ins Fitneßcenter wollte.
"Ich habe äußerst kurzfristig Karten für ein Konzert im verlassenen unterirdischen Kaufhaus im Modeviertel bekommen und möchte gerne mit dir hingehen."
"Zu einem Konzert? In San Myshuno?" Sie wunderte sich, woher diese Idee plötzlich kam.
"Genau! Du würdest es zwar auch nach der Arbeit schaffen, aber ich vermute, du möchtest dir Pink Lemontree nicht hungrig und in deiner Bürokluft ansehen?" fragte Caleb probend.

"Pink Lemontree?! Wahnsinn!" rief sie aufgeregt und bemühte sich nicht ins Telefon zu schreien, woraufhin ihr Freund am anderen Ende der Leitung zu lachen begann. "Ah, offenbar hatte ich es doch richtig im Kopf, daß du diese Band sehr magst und es oft ihre Lieder sind, die du auf der Gitarre spielst."
"Sie mögen?! Ich vergöttere Pink Lemontree!" Jetzt kreischte sie doch ein wenig und fing sich rasch wieder, auch wenn es schwer fiel, doch die ersten Kollegen fingen bereits an zu ihr hinüberzustarren und zu tuscheln.
"Dann sehe ich dich um 20 Uhr an der Bahnstation Modeviertel?"
"Wow, ja! Wieviel bekommst du für die Karte? Damit ich genug bei mir habe!"
"Jade, ich bitte dich! Du hast mich ins Kino eingeladen, jetzt bin ich dran", tadelte er sie gutmütig.
"Ja, aber..."
"Du willst mich doch nicht beleidigen?" Diesmal klang es schärfer, und die Schwarzhaarige seufzte ergeben und grinste. "Nein, du Dickkopf. Danke, Caleb!"
"Prima! Bis später!"

Zufrieden legte der Vampir auf. Eine unterirdische Konzertbühne klang wahnsinnig spannend, und zudem würde die Band hoffentlich Jades musikalisches Herz zum Hüpfen bringen. Mit ihren romantischen Problemen mochte er ihr vielleicht nicht helfen können, solange sie es sich nicht anders überlegte und sich ihm anvertraute, aber wenigstens ihren Streß auf der Arbeit konnte er auf diese Weise angehen. Sie brauchte sicher nur ein paar kleine Schubser, um endlich doch noch die richtige Karriere einzuschlagen, und darum würde er sich nun kümmern, so wie er es sich schon vor Monaten vorgenommen hatte. Es war nun dringlicher denn je, daß Jade die richtigen beruflichen Entscheidungen traf.
Der CEO rief seine Sekretärin an und gab ihr Bescheid, daß er früher gehen würde.

***

Im Eingangsbereich des umgebauten Kaufhauses herrschte großes Gedränge, doch Jades Vorfreude die Band zu sehen war größer als ihre Angst. Aufgeregt und mit leuchtenden Augen hielt sie sich dicht an ihren Freund und ließ die kribbelnde Atmosphäre des heruntergekommenen Gebäudes und die unzähligen Band-Plakate auf sich wirken. Als sie am Einlaß vorbei waren lichtete sich die Menschenmenge nur unwesentlich.
"Wieviel Zeit haben wir noch, bis sie uns zur Bühne lassen?" wandte sie sich an Caleb, der auf seinem Handy die Zeit prüfte. "Etwa 30 Minuten."
"Dann besorge ich uns noch Cola, ja? Das ist das mindeste, nachdem du die Karten gekauft hast! Oder willst du lieber Bier?"
"Danke, aber weder noch. Wenn du eine große Cola nimmst und ich nippen darf genügt mir das."

Sie sah ihn zweifelnd an, drückte dann aber seine Hand und reihte sich in die lange Schlange ein, während er am Eingang wartete. Softdrinks waren nun wirklich nichts für ihn, aber auf einem Rockkonzert durfte er wohl keine Gourmetküche erwarten. Hauptsache, sie kam nicht mit Hotdogs zurück. Der Vampir war bester Laune, denn er hatte Jade noch nie dermaßen aufgedreht erlebt und es war herrlich ihr zuzusehen. Schon auf dem Weg von der Haltestelle hierher wäre sie fast ausgeflippt vor Aufregung, und die Euphorie hielt sogar hier noch an und sorgte dafür, daß sie nicht vor den Fremden zurückschreckte. Zumindest bislang nicht. Er würde ein Auge auf sie haben, um es diesmal rechtzeitig mitzubekommen, wenn sie eine Pause brauchen sollte.

Während er wartete vertrieb Caleb sich die Zeit am Souvenirstand, wo er ein Gespräch mit dem Betreiber darüber begann ob es möglich wäre gegen Aufpreis ein Shirt signieren zu lassen.
Plötzlich wurde er gewahr, daß Jade von zwei Männern angesprochen wurde, und ihr Gesicht drückte keine Freude darüber aus. Er runzelte die Stirn und überlegte, ob er sich einmischen sollte, entschied sich aber zunächst dagegen. Vermutlich wollten die Typen etwas schnorren, hofften vielleicht, daß Jade Zigaretten dabei hätte, oder sie drängelten sich vor. Oder sie fragten schlicht nach der Uhrzeit und Jade fühlte sich nun doch wegen ihrer sozialen Phobie unangenehm berührt. Wenn Caleb eins gelernt hatte, dann daß junge Frauen heutzutage es oft gar nicht mochten, wenn Männer sich bemüßigt fühlten ungefragt ihre Probleme für sie zu lösen, und auch die Schwarzhaarige hatte sich nie als hilfsbedürtige Maid in Nöten gegeben, sondern packte ihre Probleme selber an. So sprach er zunächst weiter mit dem Händler, behielt die Szene aber im Auge. Sollte Jade doch Beistand benötigen würde er es mitbekommen, schließlich waren auch genug andere Leute in der Schlange, die ihr helfen würden.

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