Als sie sich endlich wieder unter Kontrolle hatte und beide nach einem kurzen Zwischenstopp bei den Damentoiletten, wo Jade ihr ramponiertes Make-up richtete, das Opernhaus verließen, beschlossen sie erst ein Stück zu gehen, ehe sie ein Taxi rufen wollten. Die Nacht war sternenklar und lau und sie hatten lange genug gesessen. Die Stadt hatte sich zur Ruhe gelegt, nur wenige Menschen kamen ihnen entgegen und es war angenehm still. So flanierten Jade und Caleb also den Bürgersteig entlang und sprachen über das Stück.
"Das wird zur Gewohnheit, huh?" machte Jade verlegen und rückte ihre Brille zurecht, da die Kontaktlinsen ihren gereizten Augen zu sehr geschmerzt hatten. "Ich sollte nicht so oft heulen."
"Aber das war doch süß", versicherte er ihr freundlich.
"Süß? Na, das ist auch ein Standpunkt!" Beide lachten unsicher.

"Wie die Oper dir gefallen hat brauche ich wohl nicht zu fragen", meinte der Vampir frech, "Also gehe ich direkt ins Detail. Was hat dich am meisten begeistert, die Musik oder die Geschichte?"
"Oh, ich fand alles herrlich! Auch die Sänger, und diese Schiffskulissen! Wahnsinn! Man war so nahe dran, das geht im Kino gar nicht!"
"Da hast du sicher recht. Ich empfinde Konzerte auch stets als erhebend. Livemusik ist etwas ganz besonderes."
"Ja, das Orchester hat mich total gerührt, noch viel mehr als die Sänger! An diesen Abend werde ich noch lange zurückdenken und träumen. Danke, daß du mich mitgenommen hast!" Ihre Augen strahlten wie die einer Fünfjährigen angesichts der Geschenke am Lichterfest.
"Es war mir eine Freude, Jade Sparkle", entgegnete er ehrlich.
"Ich würde sehr gerne noch mal in die Oper gehen!" beschloß sie versonnen, was ihn zum Lächeln brachte. "Und ich werde dich sehr gerne begleiten. Kannst du dir vorstellen, wie es sich anfühlen muß, Teil dieses Orchesters zu sein und anderen Menschen so viel Freude zu bereiten?"
"Das ist sicher toll", gab die Musikliebhaberin offen zu. "Aber die spielen nicht Gitarre."
"Du hast die Gitarre in so kurzer Zeit gemeistert, es wird dir auch mit der Geige gelingen. In dem Punkt bin ich völlig von deinem Talent überzeugt."
"Oje, du überschätzt mich maßlos!" Sie lachte. "Ich muß noch so viel lernen... Die Partituren der Oper würde ich mir aber schon gerne einmal ansehen. Es waren fantastische Passagen darin!"
"Die lassen sich doch sicher im Buchladen finden! Laß uns demnächst danach schauen, Jade Sparkle!"
"Okay, das können wir machen. Und den Musikladen, von dem du mir ein Foto geschickt hast, möchte ich auch sehen! Spätestens dort sollte man mir helfen können zu finden, was ich suche."
"Sehr gerne, Jade Sparkle." Er lächelte still in sich hinein. Neben Jade zu gehen war Balsam für die Seele, und es wunderte ihn nicht, daß er sich am Sonntag ausgerechnet auf eine Gitarre konzentriert hatte, um einen ähnlich ruhigen Moment in seinem Selbst zu bewirken.

Jade sah sinnierend auf den Bürgersteig hinab, während sie eine Weile schweigend nebeneinander gingen. Schließlich fragte sie: "Glaubst du an so etwas wie in dem Stück?"
"Du meinst verfluchte Geisterkapitäne?"
"Nein, an ein Schicksal, das jemanden für einen bestimmten Partner vorsieht."
"Nein, Schicksal halte ich ebenso für ein Gerücht wie Liebe auf den ersten Blick."
"Hm. Ich stimme bei beidem zu."
"Na sowas! Schöne Berufsromantiker sind wir zwei!" Er war überrascht, daß sie seine Ansicht teilte, und sie erklärte: "Oh, in Büchern finde ich es ganz toll, und in Filmen auch. Insofern sehe ich mich schon als Romantikerin!" Sie lachte, und er stimmte ein, ehe er meinte: "Wenn das deine Definition ist, dann schließe ich mich größtenteils an und sehe mich doch auch so!"
"Größtenteils? Dann stört es dich manchmal also doch?"

"Wenn es zu lächerlich ist, dann ja. In einer Oper ist die Geschichte der armen Senta und des Fliegenden Hollsimmers herzerweichend. Sich nach jemandem zu verzehren, den man nur aus Geschichten kennt, und für diesen aus Liebe nach kürzester Zeit sein Leben zu geben ist eine schöne Mär. Der Oper oder einem Film kann ich das übereilte Tempo nachsehen, da die zur Verfügung stehende Zeit nicht ausreicht, um den Aufbau einer echten Beziehung nachzuerzählen. Bei Büchern hingegen stört mich das immens! Autoren sollten sich so viele Seiten nehmen wie sie brauchen, selbst wenn ihr eigentliches Thema keine Romanze ist, sondern ein Krimi oder Drama! Nehmen wir als Beispiel den Sherlock Holmes Roman 'Der Hund von Simskerville'. Der junge Lord Simskerville bittet seine Nachbarin nach einigen wenigen Gesprächen um ihre Hand. Das ist viel lächerlicher als der Hollsimmer und das literatische Äquivalent zu den seltsamen Gestalten, die nach nur einem Date auf dem Romantikfestival heiraten."

Jade fand es schön, mit ihm über solche Dinge sprechen zu können, gerade wo sie eh in dieser seltsamen Stimmung war nach dem herrlichen Abend. Sie überlegte eine Weile, was ihre eigenen Erfahrungen anging, und sagte dann: "Hm, ja, da gebe ich dir recht. Es muß ja keine Novelle in der Novelle sein, aber nachvollziehbar sollte es schon sein. Anscheinend habe ich aber noch nicht viele Bücher gelesen, in denen die Liebe so übereilt wurde, denn es ist mir noch nicht störend aufgefallen. Sicher sind viele Geschichten hoffnungslos übertrieben, aber das ist ja das Schöne daran."
"Natürlich, zu einer realen Beziehung gehört schließlich ohnehin viel mehr. Viele Bücher enden viel zu früh."
"Mehr was?" fragte sie prüfend.
"Zeit und Arbeit. Zeit, um sich kennenzulernen, Vertrauen aufzubauen, Liebe wachsen zu lassen. Und Arbeit, um dieses Vertrauen aufrecht zu erhalten und die Liebe zu nähren."
"Ist das bei einer Freundschaft nicht auch so?"
"Ich denke schon, nur ist es bei Liebe auf einem höheren Niveau, da man sich irgendwann jeden Tag sieht und das Verhältnis beständig sein muß. Ich bin kein großer Freund von übereilten Hochzeiten und einem 'und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende' zum Abschluß, wenn mir noch gar nicht sicher erscheint, ob die Protagonisten sich bereits richtig kennen. Kaum ein Buch kommt über die anfänglichen Schmetterlinge im Bauch hinaus."

Sie lächelte versonnen in sich hinein. "Zeit und Arbeit... Das hast du schön gesagt! Aus welchem Buch ist das?"
"Hey! Du hast angefangen mit der wehmütigen Unterhaltung, jetzt mach dich nicht lustig über mich!" Zur Strafe kitzelte er sie an der Taille und sie quietschte kichernd auf und versuchte zu entkommen. "Mache ich doch gar nicht! Iiiks, Caleb, nicht!" Sie lachte so sehr, daß sie auf ihr Kleid trat und durch den plötzlichen Ruck nach vorn gerissen wurde, wodurch sie ins Straucheln geriet und sich instinktiv an seinen Armen festhielt, die sie kurz zuvor noch hatte abwehren wollen.

Der Vampir packte sie sanft um die Mitte, damit sie nicht fiel. "Alles in Ordnung?" erkundigte er sich erschrocken und beäugte den Saum des Kleids. So weit er es beurteilen konnte war nichts beschädigt. "Es tut mir wirklich leid, ich hatte nicht damit gerechnet, daß du so heftig..."
Als er wieder aufsah traf ihn ihr Blick wie ein Blitz. Sie starrte ihm ins Gesicht, und er glaubte darin eine Sehnsucht zu sehen, welche der der Senta in nichts nachstand. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, als wolle sie geküßt werden.

Caleb rief sich energisch zur Ordnung. Entweder bildete er sich das rundweg ein, weil der Abend so anregend gewesen war, oder sein vampirischer Charme lief gerade Amok! Ihm war bewußt, daß er mehr als nur ein wenig durstig war, zumal er gestern nichts getrunken hatte und die heutige Lieferung nicht rechtzeitig angekommen war. Vermutlich war es schlimmer als gedacht und der Vampir in ihm hatte unbewußt begonnen das potentielle Opfer zu umgarnen. Wie dem auch sei, er würde auf keinen Fall seine beste Freundin noch mehr verwirren oder sie gar zur Ader lassen. Hastig ließ er Jade los. Er sollte besser nicht in ihrer Nähe sein, bis er satt war. "Soll ich dir ein Taxi rufen? Ich muß mich langsam sputen, sonst glaubt Lilith noch, ich sei ausgezogen."
"Geh nur. Ich rufe mir selbst eins, das mußt du wirklich nicht für mich tun. Telefonieren wir morgen?" Sie wirkte ein wenig verlegen.
"Gern! Gute Nacht, Jade Sparkle, und danke für deine reizende Gesellschaft!" Er schlüpfte in sein Jackett und winkte ihr zum Abschied noch einmal zu.
"Danke dir für den wundervollen Abend, Caleb! Bis morgen!"

Als Caleb im Dunkeln verschwand mußte Jade an sich halten nicht die Nerven zu verlieren. Um ein Haar hätte sie ihn geküßt, einfach so! Der Wunsch es einfach zu tun und zu sehen, wohin es führte, war auf einmal schier überwältigend gewesen nach dem traumhaften Abend. Das Kleid, die Lichter, die Musik - all das war wie im Märchen gewesen! Sie hatte sich ihm bei ihrem Gespräch so nahe gefühlt, und dann hatte ihr schöner Begleiter sie im Arm gehalten...
Hätte Caleb sich nicht verabschiedet, dann... 'Das darf dir nicht noch einmal passieren, Jade!' Sie schlug die Hände vors Gesicht und atmete durch ihre Finger. Ihr Freund hatte sich heute tadellos verhalten. Nicht eine Umarmung, kein schlüpfriger Spruch, nur ein Kompliment, das ihr jeder andere Freund ebenso hätte machen können. Trotzdem fühlte sie sich zu ihm hingezogen wie die Motte zum Licht. Die junge Frau war sich nicht sicher, ob sie stark genug war, diese Freundschaft zu erhalten.

***

Caleb huschte wie ein Schatten in die Villa und hielt schnurstracks auf den Kühlschrank zu. Wenn Lilith nicht von ihm stibitzt oder das Paket abgelehnt hatte, dann... "Na, ein Glück!" seufzte er erleichtert und nahm sich eine Blutkonserve, in die er mit zitternden Fingern einen Strohhalm steckte, um zu trinken. Jetzt schnell auf sein Zimmer...
Kaum hatte er den ersten Schluck genommen stand im Flur seine Schwester hinter ihm. "Sieh an, mein Herr Bruder genehmigt sich einen späten Snack. Was ist denn nun wieder passiert, daß ich Expresspakete für dich annehmen darf und dein erster Weg dich zum Kühlschrank führt?" fragte sie mißtrauisch. "Fällt das Schach heute somit wieder mal aus?"

Der Vampir sah sie nur stumm an und seufzte, während er weiter trank. Liliths Blick wurde lauernd. "Und? Was hast du zu sagen?"
"Wie kommst du darauf, daß irgendetwas sei, Schwester?"
"Ach, komm schon! Wenn du dich mit dieser Jade triffst ist hinterher immer irgendwas!"
"Das ist nicht wahr!"
"Und ob es wahr ist!"
Er rollte mit den Augen. "Na schön! Meine Kräfte wären fast außer Kontrolle geraten, denke ich. Mir schien, sie war kurz davor, sich mir um den Hals zu werfen."
"So? Und wieso brauchst du dann jetzt noch eine Konserve? Schmeckt sie dermaßen widerlich?"
"Lilith, ich würde niemals von Jade trinken", erläuterte ihr Bruder ihr mit einer Selbstbeherrschung, die ihn selbst verwunderte.
"Wieso? Ist sie unter deiner Würde oder im Gegenteil zu gut für dich?"
"Im Gegensatz zu dir will ich nicht unbeherrscht von Menschen trinken, weder von Fremden noch von Freunden."
"Spricht's und fällt sie offenbar doch fast an", meinte die Vampirin trocken.
"Es war ein Unfall!"
"Das kommt alles nur davon, daß du nicht genug trinkst! Ich sage es dir doch ständig!" schimpfte sie.

Caleb beendete sein Mahl, ging durch den Bogengang in die Küche zurück, warf den Beutel in den Müll und sah sie trocken an. "Laß gut sein, Lilith."
Sie schnaubte. "Aber du bist dir wirklich sicher, daß ihr Verhalten an deinen Kräften liegt, ja?"
"Natürlich, Lilith."
"Das will ich dir auch geraten haben. Komm bloß nicht auf die Idee ein Verhältnis mit Nahrung anzufangen."
"Du weißt, daß du Menschen nicht so nennen sollst!"
"Und du weißt hoffentlich, daß ich es nicht akzeptieren würde, wenn du mir dieses Mädchen als deine Hure anschleppst. Ich weiß, daß es mal modern war, sich menschliche Konkubinen zu halten, aber die Zeiten haben wir modernen Vampire längst hinter uns gelassen, klar?" Ihre Augen wurden schmale Schlitze, und Wut kochte in Caleb hoch. "Lilith, du vergißt dich wieder einmal! Ich verbiete dir, so über Jade zu reden, verstehen wir uns?! Wir waren in der Oper, weil ich sie überzeugen will ihr Musiktalent zur Berufung zu machen, nicht mehr und nicht weniger. Darüber hinaus solltest gerade du nicht versuchen mich über moderne Vampire zu belehren, wo um uns herum die Vampirgemeinschaft immer häufiger Kinder mit menschlichen Elternteilen begrüßt, während du die Familie auf die althergebrachte Art vergrößern willst. Beides sind veritable Optionen, aber wenn du so redest klingst du wie unser vertrockneter Nachbar. Denk einmal darüber nach, ob dir das recht ist. Gute Nacht, Schwester."
Ohne auf Antwort zu warten polterte er an ihr vorbei die Treppe hinauf und verschwand in seinem Zimmer.

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