Als sie das Geräusch der zufallenden Haustür vernahm atmete Jade tief ein und ließ sich rücklings aufs Bett fallen. Wie in Zeitlupe streifte sie ihre Schuhe ab. Ihre Arme malten eine Weile die Flügel von Schnee-Engeln in die Falten der Bettdecke. Schließlich lag sie ganz still.
Sie starrte einfach nur die Decke an, ohne zu wissen wie lange, gefangen in einem dichten Kokon aus Zeitlosigkeit. Sie wollte nicht weinen, nicht lachen, einfach nur atmen und das Erlebte auf ewig festhalten. Wenn sie die Augen schloß spürte sie Calebs Lippen immer noch ganz warm auf ihren. Sie hatte gedacht ihr Herz würde platzen vor Glück! In welcher Art von Limbo ihre Beziehung nun auch immer steckte, sie hatte eine Chance! Er hatte sie nicht abgewiesen! Jade würde alles tun, um das kleine Pflänzchen Hoffnung nicht eingehen zu lassen.
Sie warf sich herum und knuddelte ihr Kopfkissen. Zu küssen fühlte sich noch tausendmal besser an als in ihrer Vorstellung!
"Ich bin so glücklich!" rief sie ihrem Fisch und dem Rest der Welt zu und spürte, wie all die Last der letzten Monate endlich etwas leichter wurde.

Sie mußte unbedingt musizieren! Nur so konnte sie das Erlebte und ihre Gefühle verarbeiten. Jade sprang leichtfüßig auf und tänzelte ins Wohnzimmer hinüber, wo sie schwungvoll ihre Gitarre herumwirbelte. Für den Rest des Tages nahm sie nichts anderes mehr wahr als ihre Musik. So mußte sich eine Nymphe fühlen, nur daß Jade nicht auf Sonnenstrahlen und dem Wind tanzte, sondern auf den romantischen Melodien.

 

***

Caleb war so verwirrt vom heute Erlebten, daß er selbst seine Schwester kaum wahrnahm, die ihn grüßte, als er den Flur ihres gemeinsamen Hauses betrat. Er hatte einen Abstecher ins Büro gemacht und den Telefontermin mit dem wichtigen Großkunden hinter sich gebracht, sich anschließend aber nicht auf die Arbeit konzentrieren können. Daher hatte er nach kurzer Zeit zusammengepackt und sich mit den Unterlagen auf den Weg nach Hause gemacht in der Hoffnung, durch die frische Luft einen klareren Kopf zu bekommen und wenigstens einen Teil der im Laufe der Woche liegengebliebenen Aufgaben nacharbeiten zu können. Insgeheim glaubte er jedoch nicht daran, sich auch nur eine Sekunde ernsthaft damit beschäftigen zu können.

"He, Caleb! Du bist mal wieder spät dran", bemerkte Lilith unwirsch, als die Haustür hinter ihm zufiel. "Willst du gleich noch Schach spielen? Sonst mache ich mich erstmal fürs Joggen bereit, die Sonne geht ja langsam unter." Zwar waren die Sonnenstunden in Forgotten Hollow deutlich kürzer als im Rest des Landstrichs, wo es noch einige Stunden lang Tag sein würde, aber ganz dunkel war es noch nicht. Lilith war nicht so resistent gegen die Strahlen der Sonne wie er. Sie konnte zwar eine kleine Weile bei Tageslicht draußen verbringen, aber selbst die Dämmerung fügte ihr noch Schmerzen zu. Daher war sie tagsüber im Haus gefangen, wenn sie nicht gerade bei der Arbeit war, und war infolgedessen oft verstimmt, daß er immer häufiger die Tage außer Haus verbrachte und sie mit ihrer Langeweile zurückließ, vor allem wenn er dann seine Arbeit abends nachholte, wie er es auch heute vor hatte. Der Fernseher half zwar gewaltig bei diesem Problem, aber manchmal war die Vampirin auch schlicht eifersüchtig, sowohl auf seine Freunde, mit denen sie ihn plötzlich teilen mußte, als auch auf ihn selbst, weil er einfach hinausgehen konnte, wann er wollte.

"Heute nicht, Lilith. Wenn es dir nichts ausmacht möchte ich gleich nach oben gehen. Ich muß noch arbeiten", gab er geistesabwesend zurück.
"Nanu, was ist dir denn passiert? Du bist ja in einer komischen Stimmung." Ihr konnte er nichts vormachen, dafür kannten sie sich viel zu lange.
"Darüber möchte ich noch nicht reden. Ein andermal, Schwester, wenn ich es selbst weiß."
Sie sah ihn schräg an. "Du bist ja in letzter Zeit oft seltsam, Bruderherz, aber heute bist du völlig neben der Spur." Die Vampirin polterte ebenfalls nach oben, mit jedem Schritt zwei Stufen nehmend. "Dann lasse ich dich mal grübeln und hole meine Sportschuhe! Früher oder später bekomme ich eh heraus, was mit dir nicht stimmt! Bis später!"

Der Vampir ging in sein Zimmer, setzte sich auf die Bettkante und sah zum Fenster hinaus ins Abendrot. Was mit ihm nicht stimmte? Wenn er das mal selber wüßte. War er eigentlich von Sinnen, sich mit einem Menschen auf diese Weise einzulassen?! Allein die Idee war völlig surreal! Caleb vergrub das Gesicht in den Händen. Er hatte Jade gern, sehr gern sogar. Daher war es ihm im ersten Reflex nur natürlich vorgekommen ihre Annäherung zu erwidern. Aber was jetzt? Sie war ein Mensch und er rund zehnmal so alt wie sie! Noch dazu schien sie noch immer nicht wirklich wahrhaben zu wollen, was er war und was das bedeutete! Wenn dieser Wahnsinn danebenging und sie sich von ihm abwandte würde er seine beste Freundin verlieren.

Seine größte Sorge war, ob ihre Gefühle echt waren. Sicher, sie glaubte das, aber wie konnte er sicher sein, daß sein Vampircharme nicht unbewußt ihr Herz beeinflußt hatte? Sie war der erste Mensch, der über Monate hinweg nahen Kontakt mit ihm hielt. Er hatte keine Erfahrung damit, ob seine Magie, obwohl nie gegen sie eingesetzt, dennoch unbemerkt Einfluß auf ihre Gefühle haben konnte. Waren all seine flotten Sprüche, die er die Damen normalerweise wieder vergessen ließ, Schuld daran, daß sich in ihr der Eindruck von Verliebtsein gebildet hatte? Oder hatte er sie gar doch unbewußt beeinflußt nach Beryls Anmerkungen? Wenn dem so wäre, dann würde er sie nur ausnutzen, wenn er darauf einginge. Das war das letzte, was er ihr antun wollte.

Andererseits war es möglich, wenn auch völlig irrsinnig, daß Jade sich tatsächlich in ihn verliebt hatte und all die Momente, die er auf seine Vampirkräfte schob, allein von ihr ausgingen. Er wagte es kaum zu hoffen. Aber wie sollte er die Wahrheit herausfinden? Niemand konnte in das Herz eines anderen schauen, auch ein Vampir nicht.
Er scholt sich dafür, daß ihm ihre Gefühle nicht früher aufgefallen waren, doch er war es schlicht nicht gewohnt! Er hatte ihre Blicke und Stimmungen nicht zu deuten gewußt, war sich nur sicher gewesen, daß sie nicht, wie zum Beispiel Beryl, auf schnellen Sex aus war. Daß sie Gefühle entwickelt hatte... wie hätte er das ahnen können? Selbst wenn er es gewußt hätte, er hatte keine Ahnung, wie er darauf reagiert hätte. Hätte er sie ermuntert oder versucht ihre Gefühle abzuwenden, ehe es so weit kommen konnte?

Seine Bitte, es langsam angehen zu lassen, war zu einem hohen Grad Selbstschutz. Caleb konnte nur hoffen, daß sich in den nächsten Tagen und Wochen herauskristallisieren würde, ob Jade wirklich fühlte, was sie zu fühlen glaubte, ob es wirklich Zuneigung war oder sie doch nur Leidenschaft empfand und es aus Unwissenheit verwechselte. Hoffentlich ehe es einem von ihnen richtig weh täte, sollte sich das ganze als Luftschloß herausstellen.

Allen Bedenken zum Trotz nämlich hatte es sich unerwartet gut angefühlt sie zu küssen. Es war überhaupt nicht so gewesen wie die fast schon mechanisch ausgeführten Liebkosungen zur Nahrungsbeschaffung, an die er sich von unzähligen Nächten in Clubs erinnerte. Nicht ein bißchen. Er hatte auch nicht gewußt, wie sehr er sich das gewünscht hatte, nicht bis er sie so gespürt hatte. Jade zu küssen hatte etwas in ihm berührt, hatte ihn bis ins Mark erschauern lassen, hatte seine Brust mit einer warmen Energie erfüllt, die er schon längst verloren geglaubt hatte. Ihre Nähe brachte sein Innerstes zum Klingen, wie sanfte Musik.
An diesem sonnigen Nachmittag, an dem seine Kräfte auf einem Tiefpunkt und er abgelenkt waren, hatte sie ihn freiwillig geküßt. Zumindest an diesem Glauben hielt er fest, selbst wenn all die Gefühle dahinter nicht so echt waren, wie sie glauben mochte. Und so unglaublich es auch in seinen Ohren klang, Jade wollte nichts von ihm haben, so wie Beryl es tat. Im Gegenteil, sie wollte ihm etwas geben. Etwas, das er nie gehabt hatte. Und sie gab sich alle Mühe damit.
Was erwartete sie jetzt von ihm? Durfte er sich darauf einlassen? Wollte er sich darauf einlassen? Er war versucht den Dingen auf den Grund zu gehen und mehr über seine eigenen Gedanken herauszufinden.

Der Vampir horchte in sich hinein, fragte sich, was genau er für Jade empfand. Er war sich nicht sicher. Natürlich hatte er zweideutige Bemerkungen und Scherze über ihre Beziehung zuhauf gemacht, aber er hatte dabei keine konkreten Hintergedanken gehabt. Es lag einfach in seiner Natur als charmanter Jäger. In den letzten Wochen hatte er ab und an jedoch durchaus gemerkt, wie er sich immer öfter auf ihr lachendes Gesicht freute und auf ihre verrückten Geschichten, wie sehr er ihre Umarmungen und Komplimente vermißt hatte seit dem Romantikfestival, und er besuchte sie viel öfter als irgendjemanden sonst. Außerdem beharrte Beryl darauf, daß er sich ihr gegenüber anders verhielt. Hatte er also doch schon länger mehr als freundschaftliches Interesse an Jade und es nur nicht gemerkt? Jetzt wußte er, was ihm ständig das Gefühl gegeben hatte, daß etwas fehlte, daß er das große Ganze noch nicht überschaute. Aber bestand das Interesse wirklich an ihr als Frau oder war es nur Ausdruck seines innigen Wunsches, seine Menschlichkeit wiederzufinden, und sie als Freundin war ein Ventil?
Hätte es ihn interessiert, daß ihre Augen so warm und tief waren wie feinste Trinkschokolade und ihm bei jedem Treffen tiefer und glänzender vorgekommen waren, wenn sie nur ein Vorwand wäre?

Er mußte vor sich selbst zugeben neugierig zu sein mehr über ihre und seine eigenen Gefühle herauszufinden, aber er hatte noch keine Idee, wie er ihr beim nächsten Mal gegenübertreten sollte. Caleb hatte das dumpfe Gefühl, daß seine übliche Schlagfertigkeit ihn im Stich lassen würde, aber wie sollte er dem entgegnen? Das war nichts, was er vor dem Spiegel üben konnte, da er keine Ahnung hatte, wie Jade bei ihrem nächsten Treffen reagieren würde, geschweige denn wie er agieren sollte.
Unbekanntes Gelände. Was für eine aberwitzige Situation in seinem Alter.

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