Jade
Mit einem befreiten Seufzer stellte Jade Sparkle den letzten Umzugskarton an den Straßenrand, damit die Müllabfuhr ihn am nächsten Morgen gleich mitnehmen würde. Den ganzen Tag hatte sie geschuftet wie ein Ackergaul, um ihr neues Haus in Willow Creek komplett einzurichten und das Gröbste zu putzen. Nun war sie endlich fertig, und sie wollte in den nächsten Wochen keinen Karton mehr sehen müssen.
Die junge Frau nahm ihre türkisfarbene Kappe vom Kopf, wischte sich den Schweiß von der Stirn und wandte sich um, um zufrieden ihr kleines, feines Heim zu betrachten. Für sein Alter war das Haus gut in Schuß, und sie hatte es sich mit einer Grundausstattung an Möbeln gerade so eben leisten können von ihrem Ersparten. Gut, am Garten würde sie irgendwann mal etwas machen müssen, der war nicht gerade eine Augenweide. Aber mit gärtnern würde sie garantiert nicht mehr heute anfangen. Erstmal mußte sie sich ohnehin um wichtigere Dinge kümmern, wie sich mit den neuen Küchengeräten vertraut zu machen, und natürlich brauchte sie dringend schnell einen Job, sonst würde sie schon bald im Dunkeln sitzen.
Wenig später saß sie an ihrem kleinen Eßtisch und durchsuchte die Jobangebote auf ihrem Smartphone, während sie lustlos einen äußerst faden Gartensalat in sich hineinschob. Leider war das das einzige, was ihre Kochkünste bislang hergaben. Beim Versuch sich ein Spiegelei zu braten war ihr eine Stichflamme entgegenschlagen, welche sie dermaßen in Panik versetzt hatte, daß sie lieber erstmal bei Rohkost bleiben wollte, bis sie sich in der Küche etwas sicherer fühlte. So oft sie auch darüber gemeckert hatte, im Moment vermißte Jade das Essen aus der Unikantine. Sie hätte sich ja einfach eine Pizza bestellt nach dem harten Tag, doch wie sie feststellen mußte schien in der ganzen Stadt kein Lieferdienst geöffnet zu haben, und in 3km Umkreis um ihr Haus war auch keine Imbißbude zu finden. 'Na, was soll's. So knapp wie du jetzt bei Kasse bist hättest du dich sowieso nicht an geliefertes Fast Food gewöhnen können', versuchte sie sich zu trösten und klickte eine Seite weiter in der Jobbörse. Im Hintergrund lief eine tägliche Kochshow in ihrem uralten Billigfernseher aus zweiter Hand. Hoffentlich konnte sie sich von der auf Dauer ein paar Rezepte und Tipps abschauen.
Es klopfte an der Tür. Jade reckte den Kopf nach hinten, um um die Ecke schauen zu können, und sah durch den Glaseinsatz ihrer Haustür eine Frau draußen stehen. "Was will die denn?" fragte sich Jade grummelnd. Sie war eine Einzelgängerin, und fremde Leute machten sie über alle Maßen nervös. "Was kannst du erwarten, wenn du umziehst? Du bist hier von Fremden umzingelt!" schimpfte sie mit sich selbst und stand widerstrebend auf, um nachzuschauen, was die Fremde wollte. "Hoffentlich nicht gleich ein Zeitschriftenabo."
Die junge Frau atmete tief durch und trat mit einem zaghaften Lächeln vor die Tür, damit die unerwartete Besucherin nicht ins Haus konnte. "Ja, bitte?"
"Hallo!" kam es fröhlich zurück und die Fremde lächelte breit. "Mein Name ist Summer Holiday! Du bist hier heute eingezogen, nicht wahr? Wie schön, daß das Einsame Bächlein endlich wieder einen Bewohner hat! Wir sind Nachbarn, und ich wollte dich herzlich in unserem Viertel begrüßen und fragen, ob du etwas brauchst."
"Hallo... Ich bin Jade. Jade Sparkle", stellte sich Jade lahm vor und betrachtete Summer genauer. Sie schienen ungefähr im gleichen Alter zu sein, doch da hörten die Gemeinsamkeiten wohl schon auf. Ihre Nachbarin war sommerlich gekleidet in einem blauweiß gestreiften Poloshirt, blauem Rock und leichten Stoffschuhen. Ihr blondes Haar fiel ihr in einem akkurat geflochtenen Zopf weit auf den Rücken hinab und blaue Augen strahlten in ihrem schmalen Gesicht. Summer war überhaupt sehr schmal. Dagegen war Jade das totale Kontrastprogramm, mit Kurven, die sie unter einem blauen Schlabberpulli versteckte, der ihr mit seinem ausgeleierten Kragen über die Schulter herunterrutschte und so den Eindruck verschieden langer Ärmel erweckte. Die längsgestreifte Strumpfhose, die sie unter ihrem Tüllröckchen trug, verschwand in niedrigen, stabilen Boots. Jade trug ihr rabenschwarzes Haar zu Dutzenden von kleinen Zöpfen geflochten, auf denen ihre türkisfarbene Kappe thronte, die sie fast nur zum Schlafen abnahm, weil die Kappe und ihre silberne Brille herrlich dazu geeignet waren sich darunter zu verstecken.
"Hallo Jade!" Summer streckte ihr die Hand entgegen und Jade widerstand gerade noch dem Impuls zurückzuzucken. Ihr Spinnensinn klingelte Gefahr, aber sie wußte selbst, daß das Unsinn war. Die junge Frau schüttelte widerwillig die Hand der anderen und meinte: "Danke, ich komme schon zurecht. Ich bin fertig mit dem Einzug und wollte gerade etwas essen." - "Ach herrje! Hätte ich das gewußt hätte ich einen Kuchen mitgebracht! Na, aufgeschoben ist nicht aufgehoben", lachte die andere und spähte an ihr vorbei. "Ah, sieh an! Da kommt auch einer meiner Mitbewohner, um dich zu begrüßen!"
Ein Mann, ebenfalls wohl in ihrem Alter, stieg die wenigen Stufen zur Veranda hoch. Er war dunkelblond und trug einen roten Pulli mit Karomuster, den Jades Vater wohl geliebt hätte, der an einem jungen Burschen aber etwas steif wirkte.
Als er bei ihnen ankam schaltete Summer sich sofort als Vermittler ein. "Jade, das ist mein Mitbewohner Travis."
"Hallo Jade. Ich bin Travis. Travis Scott", grüßte der Mann unnötigerweise. Er war freundlich, wirkte jedoch etwas geistesabwesend und hatte sein Handy in der Hand, auf dem er eifrig etwas tippte.
"Hallo..." Jetzt waren es schon zwei Fremde. Jade schwitzte unter ihrer Mütze.
Summer schwatzte fröhlich weiter. "Wir wohnen da drüben, in dem großen Haus. Die Dritte im Bunde ist Liberty Lee, du wirst sie mögen. Sie hat einen ähnlichen Geschmack wie du, was Kopfbedeckungen angeht. Kommt Liberty auch, Travis?"
"Nein, sie ist nicht zu Hause", murmelte Travis, während er weiter an seiner Nachricht schrieb.
"Schade! Sag mal, haben wir noch was von dem tollen Kürbisbrot vom Stadtfest gestern?"
"Ich glaube schon. Soll ich es holen?" fragte er, sein Telefon endlich in der Hosentasche verstauend. Er sah bei der Frage nicht Summer an, sondern Jade.
"Danke, danke, aber das ist wirklich nicht nötig! Ich hab alles!" wehrte diese rasch ab. Was für eine unangenehme Situation!
"Ach, aber es wäre uns echt eine Freude dir zu helfen! Wenn du etwas brauchen solltest, dann klingle einfach bei uns, ja?"
"Aber sicher, danke."
"Wir haben so gerne Gäste! Sag mal, Jade, was arbeitest du eigentlich?"
"Ähm, tja, die Bewerbungen sollten gleich nach dem Essen drankommen." Die Schwarzhaarige fühlte sich gestreßt, und sie hoffte Summer würde erkennen, daß sie den frühen Abend anders verplant hatte als mit den Nachbarn schwatzend auf der Veranda zu stehen. Ihre Hoffnung wurde enttäuscht.
"Aaah! Alles klar! Ich arbeite als Leckermaul bei Hans Mampf, und Travis ist Technikguru bei Rainyday Entertainment, die kennst du doch sicher! Also, wenn du in diesen Bereichen was suchst und jemanden brauchst, der ein gutes Wort für dich einlegen würde, dann..."
"Danke, Summer. Ich fürchte, mir liegt weder kochen noch programmieren, aber ich werde sicher etwas finden."
"Gut, doch denk dran: Man kann alles lernen!" lachte Summer.
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