"Auaaa!" Jade kam unbeholfen auf die Füße. Ihr war schwindelig. Warum lag sie hier im Flur herum? Sie war doch noch nie geschlafwandelt. "Mann, tut mir der Nacken weh! Kein Wunder, so wie ich hier gelegen habe! Wie ist das bloß passiert?" Sie erinnerte sich dumpf an einen Alptraum mit einem gruseligen alten Mann darin, der sie angestarrt hatte, und daß ihr letzter Gedanke gewesen war, die Haustür abzuschließen. War dieser Traum so intensiv gewesen, daß sie tatsächlich schlafend in den Flur gegangen war? "Hoffentlich passiert sowas nicht öfters, sonst muß ich mal zum Arzt." Sie fühlte sich seltsam schwach, und sie mußte dringend aufs Klo. Mit zusammengekniffenen Beinen tippelte sie ins Bad hinüber und erledigte geistesabwesend ihre Morgentoilette.

Das war ein wirklich seltsames Gefühl. Wieso machte ihr Kreislauf heute bloß solche Probleme? Hatte sie vielleicht zu wenig gegessen, oder war sie dehydriert? Jade war regelrecht schlecht.
Sie schlurfte in die Küche. Sicher würde ein Fruchtsalat zum Frühstück sie wieder auf die Beine bringen. Der Blick auf die Uhr erschreckte sie. Nicht nur, daß sie im Flur genächtigt hatte, sie hatte auch bis in den frühen Nachmittag geschlafen! "Das gibt es ja wohl alles nicht! Ich hatte so viel vor! Was lasse ich jetzt weg, und was kann ich überhaupt machen, wenn dieses Schwindelgefühl nicht verschwindet?"

Seufzend schob sie sich bald darauf eine Gabel frisches Obst in den Mund und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen, bis er auf ihrer Gitarre hängen blieb. "Na, alter Freund? Wollen wir noch ein Tänzchen wagen, ehe dein elektrischer Kumpel geliefert wird?" meinte sie grinsend.

Bald darauf stand sie im Schlafanzug im Wohnzimmer und verlor sich in der tröstenden Musik. Sie spielte heute nicht so gut wie sonst, irgendwie zitterten ihre Finger und waren ein wenig taub, aber es ging. Jade setzte sich mit der Gitarre einfach auf die Sofakante und spielte weiter. Aufgeben kam gar nicht in Frage!  Sie stimmte eines ihrer Lieblingslieder an. Besser ließ sich ein Sonntag einfach nicht verbringen! Zumindest keiner ohne Caleb.


Sie spielte sicher schon zwei Stunden, als ihr Handy ging. Jade ging los, um es zu holen, und stellte fest, daß sie sich schon wieder etwas kräftiger fühlte. Als sie es aufnahm sah sie, daß es verpaßte Anrufe von letzter Nacht gab, aber das interessierte sie nicht, da es sich beim aktuellen Anrufer um Caleb handelte. 'Hoffentlich sind die verpaßten Nachrichten nicht auch von ihm!'

"Hey Caleb! Was ist los, ich dachte du seist beschäftigt?"
"Hallo, Jade! Hör mal, ich hätte nachher etwas Zeit, meine Kollegen brauchen eine Pause. Hättest du Zeit und Lust, mich in San Myshuno auf einen Drink zu treffen? Zu dir runter schaffe ich es leider nicht."
"Sicher, gerne... Aber meinst du nicht, daß du dich lieber auch ausruhen und ein wenig schlafen solltest? Du klingst müde", meinte Jade, der eine gewisse Anspannung in seiner Stimme auffiel. Sicher war er völlig überarbeitet.
"Nein, das geht schon. Ich würde dich wirklich gerne sehen, nachdem wir gestern und in letzter Zeit nur so wenig Zeit miteinander verbringen konnten."
Er klang so ernst, daß sie ihm den Gefallen auf keinen Fall abschlagen wollte, auch wenn ihr Nacken immer noch höllisch schmerzte. Außerdem brachten seine letzten Worte ihren Puls auf Touren. "Ist gut, Caleb. Sag mir nur wann und wo, und ich werde da sein."


Nachdem er aufgelegt hatte starrte Caleb sein Handy noch mehrere Minuten an und fragte sich, ob er dabei war einen riesigen Fehler zu begehen.
Bereits seit Tagen machte er sich Gedanken darum, wie lange Lilith ihr Versprechen halten und gegenüber Jade Stillschweigen bewahren würde, und bei Beryl war er sich auch nicht wirklich sicher, ob sie den Mund halten konnte. Die Frau war ein dermaßen offenes Buch, daß er sich nicht einmal sicher war, ob sie die Definition des Wortes 'Geheimnis' voll erfaßte, und er würde ihr durchaus zutrauen zu versuchen Nachforschungen über Jade anzustellen und ihr dabei früher oder später über den Weg zu laufen.

Sein Grübeln darüber, ob er Jade reinen Wein einschenken und ihr von seinem Vampirismus erzählen sollte, hatte derart extreme Formen angenommen, daß es sich auf seine Arbeit auszuwirken begann, und das konnte er gerade nicht gebrauchen.
Heute wollte er sich ein Herz nehmen und es ihr sagen. Er hoffte, die neutrale Umgebung einer Bar würde helfen, damit sie sich nicht bedroht fühlte, und er hatte extra eine winzige, abseits gelegene Bar gewählt, damit Jade nicht von Menschenmengen gereizt werden und sich voll auf ihn konzentrieren könnte.

Als die anderen ihre Pause begannen huschte er im Vampirtempo heim, duschte und tauschte den Anzug gegen seine Alltagskleidung. Er wollte sich bei diesem unangenehmen Gespräch nicht auch noch wie auf der Arbeit fühlen, und hinterher die Kleider zu wechseln war ohnehin langsam angebracht nach der langen Zeit im Büro. Er hatte stets einen Ersatzanzug im Büroschrank und würde sich einfach bei der Rückkehr dorthin erneut umkleiden. Caleb war müde, was ebenfalls nicht hilfreich war, er war hungrig, was weder hilfreich noch so schnell zu ändern war, und er hatte noch keine Ahnung, wie er das Thema anschneiden sollte, ohne daß Jade sich dumm vorkam.

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