Nun war es an ihm, sich innerlich auf die Lippe zu beißen. Bei einem so jungen Menschen hatte er darauf gebaut, daß Eltern ein relativ schmerzfreies Thema seien, doch offensichtlich hatte sie kein gutes Verhältnis zu ihnen.
"Das tut mir leid. Ich wollte nicht..."
"Oh, ist schon gut! Woher solltest du das wissen!" wiegelte sie rasch ab. "Die Kurzfassung: Sie wollten, daß ich Chirurg werde, so wie Dad. Ich hatte weder Interesse noch Talent, aber von einem anderen Berufsfeld wollten sie nichts hören. Als ich wegen meiner Noten von der Uni flog gaben sie mir etwas Geld, warfen mich raus und enterbten mich. Von dem Geld hab ich dieses Haus gekauft, weit weg von Simpolis und ihnen, und will hier endlich mein eigenes Leben leben. Alles hinter mir lassen und so!" Sie spulte ihre Geschichte ab wie einen lästigen Film, verzog das Gesicht und fing sich wieder. "Und das ist mein Leben! Etwas peinlich, aber naja."
"Ich finde nicht den Hauch von Peinlichkeit daran seinen Träumen zu folgen, Jade", meinte er ehrlich. "Auf die eine oder andere Weise hat wohl jeder Ärger mit seiner Familie. Es tut mir aber sehr leid, dich so aufgewühlt zu haben."
"Ach, was soll's! Irgendwann wäre das Thema eh aufgekommen, so hab ich's direkt hinter mir!" Die junge Frau machte kleine, nervöse Gesten mit den Händen, lächelte schief und atmete tief durch. "Es ist schon okay. Die Großstadt mit all dem Beton war eh nie mein Ding. Deshalb hab ich immer so viel gelesen! Hier ist es schön grün, es gefällt mir viel besser. Aber... äh, lesen tue ich immer noch gerne. Liest du gerne, Caleb?"
"Ja, sehr." Er nahm den Themenwechsel dankbar an. "Besonders gerne lese ich geschichtliche Romane. Und Liebesromane."
"Liebesromane?!" Sie lachte laut auf, was genau seinem Plan entsprach.
Caleb hob hilflos die Hände. "Ja, warum denn nicht? Insbesonders, wenn sie vor Kitsch regelrecht triefen, und auch die Klassiker mag ich sehr, aber es ist generell sehr selten, daß ich ein solches Buch nicht als kurzweilig empfinde, daher sind mir auch alle anderen einen Blick wert."
"Ich mag Liebesromane auch sehr."
Da war es wieder. Die Anspannung in ihr war weg. Ihr Alarmsystem hatte sich abgeschaltet, und Jade fühlte sich befreit und locker. Sie fühlte sich schlicht und ergreifend... glücklich. "Fantasyromane finde ich aber auch toll. Und Krimis. Oh, und Gruselgeschichten! Ich liebe Gruselgeschichten, besonders die altmodischen!"
"Mit schleimigen Monstern und pelzigen Werwölfen?"
"Schleimmonster findet man doch meist eher in der Science Fiction! Aber ja, klar! Werwölfe, Geister, Vampire und solcher Kram!"
"Und solcher Kram." Ihr Gegenüber lachte, und wieder fand sie seine Eckzähne irgendwie auffällig. Sie stimmte vorsichtig in das Lachen ein, weil sie nicht wußte, weshalb er das so lustig fand.
"Glaubst du an die Schauergestalten aus deinen Büchern, Jade Sparkle?" fragte Caleb gut gelaunt. Jade schnaubte und ihre Wangen glühten. "Natürlich nicht, das wäre Blödsinn! Dracula und Frankenstein und so, die gibt es doch nicht wirklich!"
"Entschuldige, ich wollte dich nur necken, Teuerste", gestand er und bekam sich mühsam unter Kontrolle. In Wirklichkeit hätte er sich gerade am Boden wälzen können vor Lachen. Hatte sie es wirklich noch nicht realisiert?
Sie zog eine empörte Schnute. "Falls du es genau wissen willst, ich glaube auch nicht an Sherlock Holmes oder an Gnome. Wie steht's mit dir, Caleb? Glaubst du an all die Antagonisten aus den Liebesromanen?" Nun lief sie Gefahr sich in Rage zu reden. Fast schon automatisch tat er, was er auch bei seiner Schwester oder jedem anderen getan hätte nach einem Disput: Er trat auf die junge Frau zu und umarmte sie, freundschaftlich und gerade lange genug, um zerknirscht zu sagen: "Ich kann nur erneut um Entschuldigung bitten!"
'Whoaaa! Gefahr! Gefahr! Gefahr!' schrillte es in Jades Kopf. Sie erstarrte zur Salzsäule. Panisch überlegte sie, was sie machen sollte, als der junge Mann die Hände auch schon wieder von ihren Schultern nahm und zurücktrat. Sie kiekste unwillkürlich auf und hob die Arme in einer Abwehrhaltung vor die Brust.
Als er sah, daß seine Geste das Gegenteil von dem bewirkt hatte, was er sich erhofft hatte, hob auch ihr Bekannter die Arme und wandte ihr beruhigend die Handflächen zu als Zeichen, daß er sie nicht noch einmal berühren würde. "Verzeihung! Ich war zu forsch!"
"Das kann man wohl laut sagen!" rief sie empört.
"Zu meiner Verteidigung kann ich nur anbringen, daß ich nicht nachgedacht habe. Was es bei genauer Betrachtung der Lage nicht besser macht."
"Faßt du Frauen, die du kaum kennst, immer so an?" fauchte sie, peinlich berührt.
"Dem ist nicht so, aber ich fasse Freunde immer so an."
Caleb versuchte die Situation zu analysieren. Was ging hier vor? Normalerweise genügten ein Lächeln und etwas Charme, um die Damen zu beruhigen. Diese Frau hingegen wurde immer wütender. War es überhaupt möglich immun gegen die beruhigende Wirkung einer Umarmung zu sein? Und was hatte er da bitte gesagt?
Nun stand sie da wie zur Salzsäule erstarrt, nachdem er von Freundschaft gesprochen hatte. Obwohl er selbst erstaunt darüber war, daß er schon wieder so offen mit ihr gewesen war, hielt er es nun für nötig weiter auszuholen. "Verzeih. Ich weiß, daß es sehr verfrüht ist von Freundschaft zu sprechen. Doch du hast mir gerade deine Lebensgeschichte offenbart, und es fühlt sich sehr vertraut an mit dir zu sprechen. Als würden wir uns bereits ewig kennen." Er zog die Stirn in Falten. "Da habe ich mich ein wenig hinreißen lassen und angenommen, daß, wo wir so nett scherzen können..."
"Nimm sowas bloß nie wieder an!" schimpfte sie, deutlich weniger aufgebracht als zuvor.
"Ganz sicher nicht, Teuerste! Mein Ehrenwort darauf!"
"Ich hab jetzt was zu tun, tut mir leid", schnaubte sie und drehte energisch den Türgriff.
Das gefiel ihm gar nicht, und er war nun doch fast versucht sie per Gedankenkontrolle zum Bleiben zu bewegen, doch das wäre so verlogen gewesen. Während er noch unschlüssig war, trat sie halb durch die Tür, blieb stehen und meinte, ohne ihn anzusehen: "Über die Woche bin ich den ganzen Tag arbeiten, da bin ich nicht zu erreichen. Und morgen muß ich waschen."
"Verstehe. Frohes Schaffen, Jade Sparkle."
"Aber nächste Woche Samstag habe ich nichts weiter vor. Vielleicht magst du dir ja meine Lieblingsbücher anschauen und darüber sprechen, welche Handlungsstränge aus Gruselgeschichten sehr wohl real sein könnten. Nur, wenn du Zeit hast, natürlich."
"Dieselbe Zeit?"
"Klingt gut."
"Dann bis nächsten Samstag, Jade Sparkle."
"Mach's gut, Caleb."
Sie schloß die Tür und war weg. Der Mann war sprachlos und konnte nur stumm in sich hinein lachen. Für einen Moment hatte er ernstlich geglaubt sie würde nie wieder ein Wort mit ihm wechseln wollen, und nun war er sogar eingeladen! Was für eine seltsame Frau! Unter dem Mauerblümchen verbarg sich nicht nur eine Menge Witz, sondern auch das Feuer eines Vulkans, und er hatte sich soeben die ersten Brandnarben eingefangen. Das war ihm noch nie passiert. Jade war rundherum schwierig, weil sie nach einem Platz im Leben und Akzeptanz suchte, genau wie er selbst. Sie beide machten Fehler dabei. Eben deshalb fand er es ungemein stimulierend mit ihr zu sprechen, und er war fest entschlossen sich mit ihr anzufreunden.
Einen Moment lang dachte Caleb darüber nach erneut zu klopfen, denn was er vor ihrer inbrünstigen Beteuerung, nicht an Vampire 'und solchen Kram' zu glauben, hatte tun wollen, war, sie vor den anderen seines Volks zu warnen. So putzig es war, daß sie bislang nicht erkannte oder erkennen wollte, was sie vor sich hatte, so gefährlich war es auch. Jade Sparkle hatte das Glück gehabt, einen der wenigen guten Vampire getroffen zu haben. Vermutlich den einzigen in der Stadt.
Schließlich entschied er sich dagegen sie noch einmal zu stören. Sie war sehr aufgebracht gewesen, und wenigstens war sie vorsichtig Fremden gegenüber. Übermorgen würde er etwas sagen, wenn sie es bis dahin noch nicht im Büroklatsch auf der Arbeit gehört hatte.
Kaum daß sie die Tür hinter sich geschlossen hatte spurtete Jade los ins Bad. Sie schlug die Tür hinter sich zu und stürzte ans Waschbecken, wo sie heftig atmend ihr Spiegelbild anstarrte. "Hast du den Verstand verloren?! Der hat dich angefaßt, und du lädst ihn ein!" rief sie, die Finger fest um den Rand des Beckens gekrallt. Sie kämpfte dagegen an in Schnappatmung zu verfallen. Aber wenn sie ehrlich zu sich selbst war hatte es sich sogar gut angefühlt in den Arm genommen zu werden. Nicht unanständig gut. Auch nicht lüstern gut. Und erst recht nicht 'du armes kleines Mädchen' gut. Einfach nur unbeschreiblich gut. Jemand anderem von ihrer Familie erzählen zu können als dem Spiegel war ebenfalls befreiend gewesen. Und noch nie hatte sie jemand als Freund bezeichnet.
"Ganz ruhig, Jade. Du packst das schon!" rief sie sich zu.
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