Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Jade wurde auf der Arbeit in ihre Aufgaben eingeführt und war vollauf damit beschäftigt zu lernen, sich alle Namen zu merken und abends daheim weiter auszupacken und Besorgungen zu machen. Sich im Stadtteil zurechtzufinden war schon nicht einfach, und der Arbeitsweg war lang. Erst am Samstag hatte sie frei, und sie nutzte den Tag, um endlich jede Ecke ihres neuen Hauses zu putzen und gleichzeitig der Kochshow im Fernsehen zuzuhören. Trotz der vielen Arbeit erwischte Jade sich immer wieder dabei auf einen weiteren Besuch ihres seltsamen "Nachbarn" zu warten, und oftmals fragte sie sich, ob er wirklich noch mal käme oder ob er es nur versprochen hatte, weil ihm die ganze Angelegenheit peinlich gewesen war, und er sie versetzen würde. Sie war sich ohnehin nicht sicher, wieso sie auf ihn wartete. Ja, dieser Caleb hatte gut ausgesehen, aber sie war nicht so peinlich sich direkt in ihn verguckt zu haben. Allzu ausführlich war ihr Gespräch auch nicht gewesen. Wieso hatte sie also das Gefühl sein Besuch würde der Höhepunkt ihres Tages werden? 'Weil Putzen dämliche Arbeit ist', redete sie sich ein und seufzte.
Das war nicht alles, doch noch konnte sie nicht den Finger darauf legen, was ihr an der Begegnung gefallen hatte. Vielleicht, daß sie nicht so anstrengend gewesen war wie die mit Summer und Travis? Nein, das war es nicht. Genau genommen war sie sogar noch anstrengender gewesen, weil Jade kaum Zeit gehabt hatte sich zwischen beiden Gesprächen auszuruhen. War es das Thema gewesen? Sie hatten eigentlich nicht viel geredet in den paar Minuten. 'Weil du ihn angestarrt hast wie ein Reh, du Dummkopf!' Vielleicht, weil er ihr einfach interessanter vorkam als die anderen bisherigen Bekanntschaften. Oder vielleicht... Jade hielt inne und wrang den Putzlappen aus. Ihr kam ein Gedanke, und sie hatte ohnehin genug von dieser Drecksarbeit.
Die Frau erinnerte sich daran, wie sehr ihren Nerven die erste Begegnung zugesetzt hatte. Bis der Knoten plötzlich geplatzt war und sie sich völlig entspannt gefühlt hatte. Sie war später stolz auf sich gewesen, weil sie nicht weggelaufen war und nicht noch schlimmer gestammelt hatte. Gegen Ende hatte sie das Gespräch sogar als angenehm empfunden, nachdem sie sich lange genug überwunden hatte. Das war ein gutes Gefühl gewesen. Eins, das sie gerne noch mal gehabt hätte.
Während Summer sie jedes Mal direkt bedrängt hatte zu antworten, wenn sie noch nach den richtigen Worten suchte und still wurde, hatte dieser fremde Mann ihr viel mehr Zeit gelassen zu reagieren. Sie war gespannt darauf herauszufinden, ob es beim nächsten Mal erneut so laufen würde, oder ob sie einfach wegen der Tageszeit und dem leiser werdenden Lärm der Straße besser reagiert hatte.
Jade setzte sich aufs Bett und nahm ihre Gitarre zur Hand, auf der sie ein wenig uninspiriert herumzupfte. Der Klang hier im Schlafzimmer wollte ihr so gar nicht gefallen. Sie versuchte es erneut. Nein, immer noch furchtbar. Zudem ging der Blick auf die Veranda und somit die Straße hinaus, und es streßte sie, wenn jemand draußen vorbeilief, selbst wenn sie es nur aus den Augenwinkeln wahrnehmen konnte. Die waren hier am Ort ja alle dermaßen mitteilungsbedürftig, daß sie bei jedem Passanten fürchtete er würde abbiegen und die Stufen zu ihrer Veranda hochkommen. Sie würde echt mal dringend Vorhänge für diese Fenster kaufen müssen.
Nach ein paar Minuten gab sie es auf, packte ihr Instrument und wechselte ins Wohnzimmer hinüber. Gespannt stützte sie sich gegen die Rückenlehne des Sofas und spielte einige Akkorde. Aaah, hier war der Klang doch gleich viel besser! Jade beschloß, ihrer Musik von nun an immer im Wohnzimmer nachzugehen, auch wenn es dadurch etwas unordentlicher wirken sollte. Musik war definitiv wichtiger als Ordnung.
Sie verlagerte das Gewicht auf ein Bein und begann zu spielen. Noch war sie nicht besonders gut, aber sie spielte dieses Instrument auch noch nicht sehr lange. Dafür spielte sie mit Leidenschaft und Disziplin. Denn Musik, das war ihr Leben. Ihre heimliche große Liebe.
Als Kind hatte sie zunächst die Nerven ihrer Eltern mit einem kleinen Xylophon malträtiert, später dann mit der Blockflöte, die sie als Teenager für etwa ein Jahr gegen eine Querflöte eintauschen konnte, bis ihre Eltern sich weigerten, den Unterricht weiter zu bezahlen, und sie wegen der Uni eh keine Zeit mehr zum Spielen hatte. Ihr Musiklehrer war sehr betrübt gewesen, da er in ihr ein musikalisches Genie vermutete - der gute alte Mr. Kramer und seine überzogenen Komplimente! - und er hatte Jade förmlich bekniet, die Musik niemals ganz aus den Augen zu verlieren.
In dem Punkt waren seine Sorgen unbegründet gewesen. Als Studentin hatte die junge Frau ein paar Mal das Schlagzeug eines Kommilitonen ausprobieren können und es geliebt. Die Musik hatte sie nie losgelassen, und sie hatte sich während des Studiums durch einen Job als Tellerwäscherin das Geld für ihre erste Gitarre zusammengespart. Es gab nur zwei Gründe, warum sie nicht versucht hatte in einer Band zu spielen. Zum einen ihre Angst vor Aufmerksamkeit. Zum anderen der Ärger mit ihren Eltern, durch den sie gezwungen gewesen war die Uni zu verlassen. Sie hatte alles hinter sich gelassen und war in diesen ruhigen, kleinen Vorort gezogen, um irgendwie ihr Glück zu machen.
Die junge Frau träumte davon als Musikerin Geld zu verdienen. Das wäre fantastisch. Aber es würde wohl nur ein schöner Traum bleiben. Wie sollte sie mit ihren Ängsten in dieser Branche Fuß fassen können? Keiner wollte eine Musikerin sehen, die sich auf der Bühne in die Ecke drückte, und ohne eine Ausbildung, Beziehungen oder einen guten Ruf auf eben dieser Bühne hatte sie auch schlechte Karten im Orchester oder als Studiomusikerin.
Trotzdem gab sie ihren Traum nicht her. Musik war das einzige, das sie im Leben erfüllte.
Unbeirrt spielte sie weiter. Nein, kein Lied. Sie übte fleißig, spielte wieder und wieder Akkorde und Tonleitern. Sie wollte dieses Instrument richtig beherrschen, nicht nur wild die Saiten schlagen und auf das beste hoffen. Sollte sie sich jemals einen Musiklehrer leisten können von ihrem Gehalt wollte sie nicht bei Null anfangen müssen, sondern die Anfängerstunden überspringen können. A - E - D. A - E - D. Nochmal. Nochmal.
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