"Okay, Jade. Tiiiiief durchatmen. Lächeln! Und los!" Jade hatte sich bereits seit zwei Haltestellen selbst gut zugesprochen und damit zweifellos einige verwunderte Blicke auf sich gezogen, aber sie registrierte das Kopfschütteln der Leute um sich herum gar nicht. Die Fahrt war nicht der schwierige Teil des Tages, der kam jetzt.
Als sich die Türen des Busses am Lautenplatz zischend öffneten sprang sie schnell hinaus, ehe sie der Mut verlassen konnte.
Sie blieb an der Haltestelle stehen und sah sich um. San Myshuno. Dieser Stadtteil war einfach der Wahnsinn, und sie war sich nicht sicher, ob sie das auf gute Weise meinte. Überall schraubten sich Wolkenkratzer in die Luft, zwischen denen sich gewaltige Werbetafeln ebenso spannten wie ganze Gehwege und Plätze. Einige Stadtfeste fanden mehrere Stockwerke über den geschäftigen Autobahnen in luftiger Höhe statt, das hatte sie im Internet gelesen. Glücklicherweise gehörte der Flohmarkt nicht dazu, im Gegenteil führten die Schienen der Stadtbahn in diesem Fall auf Brücken über den Platz hinweg. Der Ort, auf dem der Markt stattfand, lag in der Nähe der Docks. Sie roch die salzige Meeresluft und war erstaunt relativ viel Grün um sich herum zu sehen. Farbenfrohe, mit Mosaiksteinen verkleidete Mauern rahmten das Gelände ein und hielten gleichzeitig die Vegetation hübsch im Zaum. Der Flohmarkt erstreckte sich u-förmig um einen öffentlichen Basketballplatz herum und bestand aus mehreren Ständen und Imbißbuden.
Jade sah sich um. Glücklicherweise waren viel weniger Menschen unterwegs als sie befürchtet hatte, und so fiel es ihr nicht schwer Caleb auszumachen, der ein Stück die Straße hinunter im Schatten einer Karaokebar stand und in die Sonne blinzelte.
'Oje. Er sieht unzufrieden aus.' Sie fragte sich, ob sie doch noch ein Donnerwetter erwartete wegen ihrer Unentschlossenheit. Aus seiner kurzen Nachricht war das leider nicht herauszulesen gewesen. Schnell lief sie zu ihm hinüber und berührte ihn am Arm. "Hallo, Caleb!" grüßte sie und bemühte sich extra freundlich zu sein. Sie hatte heute einiges wieder gutzumachen.
Caleb schreckte auf und sah sie an. "Jade! Da bist du ja!"
"Der Bus war leider ein wenig zu spät dran, da war ein Stau."
"Etwas derartiges war der Anzeigetafel zu entnehmen. Eine Baustelle, wie ich meine? Diese Stadt scheint unaufhörlich zu wachsen, ständig wird gebaut." Er zwinkerte ein paar Mal unglücklich, um die bunten Flecken vor den Augen loszuwerden, und sah sie dann lächelnd an. Eigentlich kam es Jade doch nicht so vor, als wenn er böse auf sie wäre.
"Sind wir dann bereit für den Flohmarkt?!" fragte sie in aufmunterndem Tonfall. "Vielleicht finden wir ein Flaschenschiff mit einer Schatzkarte darin versteckt!"
Der junge Mann sah sie schräg an. "Jade Sparkle, was hattest du heute zum Frühstück? Du bist so aufgedreht."
"Vielleicht eine Flasche Baldrian, oder auch zwei?" scherzte sie und versuchte weiter zu lächeln. "Bist du böse auf mich, weil ich mich so kurzfristig umentschieden habe?"
"Nichts dergleichen! Ich bin froh, daß du dich umentschieden hast." Er seufzte und umarmte sie herzlich. "Danke, daß du mitgekommen bist."
Sie erwiderte die Umarmung nicht nur, sondern drückte ihn besonders fest, und fragte dann, als sie die Straße überquerten: "Weißt du, das wollte ich dich schon lange fragen: Wieso nennst du mich ständig bei meinem vollen Namen, Caleb Vatore?"
"Da fragst du noch?" Er schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln, bei dem ihr ständig heiß unter ihrer Mütze wurde, und erklärte: "Du hast so einen schönen Nachnamen, wer will den verschweigen? Sparkle! Das ist doch wundervoll."
"Es ist seltsam."
"Stört es dich?" fragte er besorgt.
Die Schwarzhaarige schüttelte den Kopf. "Nein, das nicht. Es ist nur... seltsam halt."
"Wenn du darauf bestehst lasse ich es sein, aber ich wäre sehr glücklich, wenn du mir meine kleine Marotte weiterhin gestattest."
"Klar, sicher. Wenn du es so sehr magst."
Die beiden Freunde schlenderten über den Flohmarkt. Dieser bestand jedoch hauptsächlich aus bunten Planen auf dem Boden, auf denen gebrauchte Sofas, Stehlampen, Stühle und andere Möbel ausgestellt waren. Weiter hinten gab es einige Stände, auf denen kleinere Dinge angeboten wurden, wie Kerzen, Tischlampen oder handgeschnitzte Skulpturen. Die meisten Besucher drängten sich weiter hinten auf dem Gelände, wo diverse Imbißbuden eine lange Reihe bildeten, mit großen Picknicktischen davor, an denen geplaudert wurde. Auch auf dem Basketballplatz war ab und an etwas los.
"Einen Flohmarkt hatte ich mir anders vorgestellt", meinte Caleb irgendwann verwundert, doch nicht unbedingt enttäuscht.
Jade, die sich noch recht entspannt fühlte angesichts der wenigen Menschen und gerade auf einem großen Sofa zur Probe saß, stimmte zu: "Ich mir, ehrlich gesagt, auch. Das ist ja schon fast ein Möbelhaus hier."
Sie kicherten.
"Hat eins der Stücke dein Interesse geweckt?"
"Nein, mein Sofa ist mir lieber. Das ist zwar vielleicht nicht so bunt wie dieses, aber dafür ist es neu. Wer weiß, wer auf diesem hier schon alles gesessen hat?"
"Wer oder was, und was sie darauf getan haben." Er zwinkerte sie verschwörerisch an, woraufhin sie sich in einem Anflug von Ekel schüttelte. "Meinst du, die verkaufen hier Sachen, wo schon mal ein Hund draufgemacht hat? Oder vielleicht hat Hamster Willi auf diesem Kissen das Zeitliche gesegnet!" - "Was für rohe und fatale Gedankengänge, Jade Sparkle! Ich dachte an weniger unangenehme Tätigkeiten." - "Oh! Iiiiih!" Sie sprang auf und lachte peinlich berührt. "Das will ich mir nicht vorstellen müssen, Caleb! Bah!"
"So, Hamster Willis Abgang wäre weniger traumatisch für dich als seine fleißig gezeugte Nachkommenschaft? Na, du bist mir ja eine!" neckte er sie. Ihr Begleiter deutete auf einen der Tische. "Dort vorn bietet ein Gentleman seltene Frösche an. Wollen wir sehen, ob du sie dank deiner Nebentätigkeit alle erkennen kannst?" fragte er grinsend.
Die Frau verzog angewidert das Gesicht. "Ugh, nein danke! Geh sie dir ruhig ansehen, ich schaue mir mal die Essensstände an."
"Ganz die alte Jade! Dann bis gleich!" Er flitzte davon.
Sie fragte sich, was er damit meinte. Hielt er sie etwa für einen Vielfraß? 'Unverschämtheit.'
Jade sah sich die Aushänge mit den Speisekarten an, bestellte aber nichts, da sie vom Frühstück noch voll und auch viel zu aufgeregt war. Es handelte sich jedoch durchgängig um exotische Speisen, was sie durchaus neugierig machte. Inzwischen kochte sie schon ganz gut und kannte diverse Rezepte, aber viel ausländische Küche war noch nicht dabei. Ob man das wohl irgendwie nachkochen konnte, wenn man es probiert hatte? 'Aber nicht heute. Ich bin kein Vielfraß!'
Hinter sich hörte sie ein Geräusch. Als sie sich umwandte sah sie, wie die angekündigte Straßenmusikerin ihr Instrument auspackte und die Sammelbüchse aufstellte. "Oh! Das wollte Caleb doch so gern auch sehen. Wo ist er bloß hin?" Bei den Fröschen war er nicht mehr, also drehte sie sich langsam im Kreis und suchte die Umgebung mit Blicken ab.
"Die Darbietung geht gleich los, Jade! Laß uns zuhören!" tönte es plötzlich hinter ihr. Jade zuckte mit einem leisen Aufschrei zusammen und fuhr herum. "Caleb! Dich hab ich gesucht! Wo kommst du so schnell her?" Sie hätte ihn doch bemerkt, wenn er die ganze Zeit in ihrer Nähe gewesen wäre.
Er sah sie unschuldig an. "Ich war nur kurz ein wenig im Schatten."
"Im Schatten?" Sie fragte sich, ob das ein Code für 'auf dem Klo' war, denn so warm war es doch gar nicht. Die Sonne leuchtete schön hell, aber es war nicht zu warm, besonders dank der frischen Brise.
Caleb zog sie mit sich. "Es geht los!"
Beide wandten sich der Musikerin zu, die sich kurz vorstellte und sodann Countrysongs zu spielen begann. Nach und nach gesellten sich mehr Zuhörer hinzu. Leute kamen und gingen, oft mit ihrem Essen in der Hand, und Jade, der es nicht geheuer war zwischen so vielen Fremden zu stehen, rückte immer näher an ihren Begleiter heran, bis sie sich fast berührten.
Die Musikerin war gut, aber nicht so gut, daß sie Jade lange fesseln konnte. Nach ein paar Minuten löste die junge Frau sich aus der Gruppe und trat ein paar Schritte zurück, um sich zu beruhigen. Langsam wurde es doch zuviel, sie würde gleich eine Pause brauchen.
Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung und betrachtete einen kleinen Springbrunnen mit einer Elefantenstatue darin. Im Becken glitzerten unter pinken Blüten, die auf dem Wasser schwammen, einzelne Münzen durch die gekräuselte Wasseroberfläche. Ein Wunschbrunnen!
Jade hörte die Musik hinter sich, kramte in ihrer Tasche nach einer Münze und schnickte sie in hohem Bogen ins Wasser. "Bitte mach, daß ich auch irgendwann so vor Leuten auftreten kann wie sie! Bitte mach mich selbstsicher und stark! Bitte, bitte, bitte!"
Caleb registrierte das leise Platschen hinter sich und bekam gerade noch mit, wie seine Begleiterin sich offenbar etwas wünschte. Sie war richtig süß, wie sie von einem Fuß auf den anderen tippelte. Er war froh mit ihr hier zu sein statt mit der resoluten Beryl. Jade machte das ganze Erlebnis zu einem Spiel. Sie hatte jedes zum Verkauf stehende Sofa ausprobiert, sich jede Lampe und Statue angeschaut und zu fast allem eine kleine Geschichte gesponnen, so wie die vom bedauernswerten Hamster Willi. Und nun hatte sie sich etwas gewünscht. Er hätte zu gerne gewußt, was das war.
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