Als es um kurz vor halb Neun klopfte versteckte sich Beryl rasch hinter der Ecke mit dem Bücherregal, während Jade zur Tür ging, um Caleb zu begrüßen.
"Guten Abend, Caleb! Komm rein!"
"Guten Abend, Jade. Oh, ein neues Möbelstück?"
"Die kleine Kommode? Ja, die hab ich am Sonntag abend aufgebaut, aber ich bin mir noch nicht sicher, wo sie endgültig stehen soll."
"Nachdem du mich in San Myshuno getroffen hast, und obwohl du so krank warst? Du solltest dich doch ausruhen!" tadelte er sie mit einem Seufzen und fügte dann sanfter hinzu: "Du trägst noch deine Arbeitskleidung, hast du zu allem Überfluß auch noch Überstunden machen müssen?"
"Nein, ich bin nur nicht zum Umziehen gekommen", erklärte sie vergnügt und ignorierte das Pochen in ihrem Kopf. "Du siehst viel wacher aus als gestern, das freut mich."
"Danke, aber wenn ich das sagen darf: An deinem fahlen Teint hat sich seit gestern nichts verbessert, Teuerste."
"Ach, es geht schon. Ich hab immer noch etwas Kopfweh, aber es ist nicht schlimm", log sie tapfer und fühlte sich verlegen, weil er sie so aufmerksam musterte. Ihr Gast legte den Kopf schief. "Nun bin ich doch froh, daß wir nicht zum Festival gehen. Diesen Zustand möchte ich nicht verschlimmern! Also, was hast du für heute Abend geplant, Jade Sparkle? Ich bin zu jeder Schandtat bereit, ehe es morgen wieder ans Arbeiten geht."
"Wooow! Zu wirklich jeder Schandtat?!" Beryl, die sich eigentlich länger hatte verstecken wollen, trat fassungslos hinter der Ecke hervor und stemmte die Hände in die Hüften, als sie sah, daß der Vampir soeben Jade umarmen wollte. "Bei so einem Versprechen muß ich jetzt aber arg überlegen, was ich als nächstes tue!"


Caleb starrte erst die eine, dann die andere Frau an. "Beryl? Was machst du denn hier?" fragte er erstaunt und ließ die Arme sinken, während die Rothaarige zu ihnen trat. Für einen kurzen Moment schrillten in ihm Alarmsirenen.
"Wir zwei Hübschen haben uns im Lauf der letzten Wochen kennengelernt", verkündete die Angesprochene und legte kurz den Arm um die Schulter ihrer Freundin, und Jade fügte hinzu: "Also wollten wir dich überraschen."
Beryl wandte sich an ihre Freundin und meinte in falschem Flüsterton: "Jade, Schatz, ich habe einen Vorschlag. Wir könnten ihn uns teilen, wenn er schon so willig ist, wäre das nichts?"
Jade schlug kopfschüttelnd die Hände vor das Gesicht, und Caleb konnte nicht anders, als sich für sie zu freuen. Seine beste Freundin hatte alleine eine weitere Freundin gefunden? Das war wunderbar! Selbst wenn er von nun an doppelt so viele Anspielungen von Beryl anhören müßte, es würde lustig sein Jades Reaktionen darauf zu sehen, so wie jetzt.
"So!" rief er in gespielter Empörung, "Die jungen Damen haben sich also hinter meinem Rücken angefreundet, und keine hatte es nötig mir etwas zu sagen? Ich bin tief verletzt, nur um das einmal klarzustellen!"

Die zwei Frauen kicherten fröhlich. Diese beiden so völlig unterschiedlichen Charaktere friedlich vereint nebeneinander zu sehen machte ihn so froh, daß er am liebsten beide gleichzeitig umarmt hätte, aber das hätte Beryl ganz sicher in den falschen Hals bekommen. Er hatte das Glitzern in ihren grünen Augen durchaus bemerkt und wollte ihr keinen Vorwand liefern ihm um den Hals zu fallen.

Trotz aller Freude über Jades soziale Errungenschaft war er allerdings auch weiterhin angespannt, denn gerade nach den Vorkommnissen vom Sonntag machte er sich nun Gedanken, was Beryl auf die Berichte ihrer Freundin erwidert haben mochte.
Diese meinte nun feixend: "Was hätten wir denn mit dir auf unserem Einkaufsbummel anfangen sollen? Zum Make-up Regal im Drogeriemarkt hätten wir dich ja noch mitgenommen, aber nicht in den Unterwäscheladen!"
"Dann seid ihr selbst schuld, daß ihr eure Einkaufstüten selber tragen mußtet."
"Oje, wie haben wir schwachen Frauen das nur ohne einen selbstlosen Ritter geschafft?!"

"Laßt uns ins Wohnzimmer gehen, hier im Flur plaudert es sich doch ungemütlich", unterbrach Jade unvermittelt die Blödelei ihrer Freunde. Sie trauerte ein wenig der entgangenen Umarmung nach und ärgerte sich auch ein bißchen, daß Beryl sich zwischen sie und Caleb gedrängelt hatte. Ohne auf Antwort zu warten ging sie vor, und die beiden anderen folgten.


Caleb grinste zufrieden. "Na, da habt ihr zwei mir ja tüchtig Arbeit abgenommen!" meinte er gerade, als Jade einen weiteren Anfall von rasendem Kopfweh bekam und sich kurz entschuldigte, um im Bad nach einer Kopfschmerztablette zu suchen. Beryl sah ihr nach und fragte sie, ob sie helfen könne, doch Jade verneinte.

Der Vampir machte sich Sorgen um sie. Es war ungewöhnlich, daß jemand so lange Nachwirkungen von einem Vampirbiß hatte. Andererseits war er auch erleichtert. Nun, wo die beiden Frauen sich ohnehin kannten, konnte er Gebrauch von Beryls Charme und Überzeugungskünsten machen.

"Auf ein Wort, Beryl!" bat er leise, und die Rothaarige trat an ihn heran und zischte: "Was liegt dir auf dem Herzen, Vampirchen? Bitte sag mir nicht, daß Jade sich in eine von euch verwandelt!"
"Geht es ihr schon den ganzen Tag so schlecht?"
"Ich fürchte schon. Bei mir war das nicht so schlimm."
"Du weißt also auch, was ihr Alptraum tatsächlich war?"
"Natürlich! Es ist unangenehm, sie nicht aufklären zu dürfen, aber ich wußte nicht, was ich sagen darf ohne mein Versprechen zu brechen oder sie in Panik zu versetzen."
"Das ist sehr anständig von dir, Beryl. Danke."
"Warum hast du ihr noch nicht erklärt, was Sache ist? Von einem Freund würde ich das eigentlich erwarten, wenn ich ehrlich bin, und es sind deine Leute gewesen!"
Er senkte die Stimme. "Hör zu, ehe sie wiederkommt. Der Grund, warum ich sie gestern sehen wollte, war eben der, sie über alles aufzuklären. Aber wie hätte ich noch etwas sagen können, nachdem sie von ihrem Alptraum erzählte und ich ihren Hals gesehen habe? Sie war völlig aufgelöst auch ohne zu wissen, was ihr passiert ist, und ich wollte nur noch, daß sie sich schnell wieder hinlegt und ausruht."

"Okay, du hast recht. Das war echt mieses Timing vom Mumienfürst."
"Allerdings! Umso besser, daß ich dich hier treffe, ich wollte dich heute ohnehin anrufen. Wirst du mir über dein Stillschweigen bezüglich meines Zustands hinaus noch einen Gefallen tun, Beryl?"
Die Angesprochene sah ihm in die hellen Augen, in denen es unsicher flackerte. "Sicher. Was gibt's?"
"Du als ihre Freundin und als ehemaliges Opfer mit Erfahrung... Würdest du an meiner Stelle versuchen Jade von der Existenz von Vampiren zu überzeugen und sie überreden einen Knoblauchkranz aufzuhängen? Ohne zu erwähnen, was ich bin? Und klär sie bitte nur im Notfall über den Angriff auf sie auf. Zu erfahren, daß sie gebissen wurde, würde sie nur beunruhigen, und sie sieht bereits so krank aus."
"Willst du ihr denn jetzt nicht mehr sagen, was du bist?"
"Sie soll erst den Knoblauch aufhängen, ohne sich wegen mir Gedanken zu machen."
"Du weißt, daß dir hier immer schlecht sein wird, wenn ich Erfolg habe, ja?"
"Selbstredend. Genau deshalb darf sie nichts wissen, sonst lehnt sie den Knoblauch direkt ab. Ihre Sicherheit ist es mir wert."
"Okay, ich versuch's. So bald wie möglich."
"Mir fällt ein Stein vom Herzen! Danke, Beryl!" Er umarmte sie erleichtert, was sie freudig überrascht erwiderte.


Genau in dem Moment kam Jade aus dem Bad zurück. Sie blieb unangenehm berührt stehen, als sie die Geste zwischen ihren beiden Freunden sah. Durch die geöffnete Tür hatte sie beide miteinander tuscheln hören und sich darüber bereits gewundert, und nun das. 'Ich dachte, Beryl wollte mir helfen? Verschweigt sie mir doch etwas?'  dachte sie verunsichert und blieb hinter ihrer Freundin stehen, die von Caleb abließ und kicherte.

Der Vampir richtete sein Augenmerk sofort auf Jade und nahm sie sanft am Arm. "Das scheint mir aber mehr zu sein als 'leichte' Kopfschmerzen. Tut es sehr weh, Teuerste?"
"Wie gesagt, es geht schon. Ich hab ja nun die Tablette genommen. Gleich wird es sicher besser werden."
"Wenn du dich lieber hinlegen möchtest sag es, dann gehen wir."
"Nein! Bitte bleibt doch noch! Du bist doch gerade erst gekommen, und wir sehen uns so selten!"
"Wenn du darauf bestehst." Er sah sie mitleidig an und führte sie zum Sofa, wo er neben ihr stehen blieb, um höflich Beryl den anderen Platz zu überlassen, die sich jedoch am Eßtisch niederließ, von wo aus sie einen besseren Blick auf die Szene hatte. Sie wollte immer noch herausfinden, ob Caleb sich Jade gegenüber radikal anders verhielt. Ihr gegenüber hatte er sich auf jeden Fall bereits anders verhalten, denn er hatte sie tatsächlich umarmt, was er noch nie zuvor getan hatte. Dumm nur, daß Jade gerade heute krank war. Selbstverständlich lenkten ihre Schmerzen die Aufmerksamkeit des Mannes auf sie.

Der Vampir betrachtete die Schwarzhaarige in der Tat fast lauernd. "Hast du heute etwas gegessen, Jade?"
"Natürlich, Beryl und ich haben sogar zusammen gekocht. Warum fragst du? Hast du doch mal Hunger? Ich könnte dir..."
"Nein, nein, Teuerste, bleib bitte sitzen. Und du hast nur Kopfweh? Du mußt dich nicht übergeben?"
"Nein!" Jade sah ihn seltsam an und begann ihren Blazer nach Flecken abzusuchen. "Wie kommst du denn darauf? Hab ich hier irgendwo gekleckert?"
"Schon gut. Ich mache mir nur Sorgen." Caleb warf Beryl einen Blick zu, der deutliche Erleichterung zeigte, und setzte sich doch mit auf die Couch. "Dann erzählt mir endlich von eurem Einkaufsbummel. Wie war das mit dem Wäscheladen?"

Sie plauderten zu dritt bis kurz nach zehn, ehe sich Beryl langsam verabschiedete, um genug Schlaf für die Arbeit zu bekommen. Caleb sah das als Zeichen ebenfalls zu gehen, auch wenn Jade gehofft hatte, daß er noch etwas länger bleiben würde. Sie sah ihren beiden Freunden zu, wie sie schwatzend und lachend die dunkle Straße entlangschlenderten, und war sich nicht sicher, was sie dabei fühlte. Der junge Mann war dermaßen unbefangen Beryl gegenüber, daß Jade nun doch der Meinung war, sich seine Zuneigung nur einzubilden, auch wenn er sie beim Abschied doch noch vorsichtig gedrückt hatte, als Beryl bereits die Stufen hinunterging. 'Er ist eben doch nur einfach so',  dachte sie traurig und machte sich fertig fürs Bett. Ihr Kopf fühlte sich trotz der Tablette so an, als sei ein Zug darübergefahren, und sie mußte einfach dringend schlafen.

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